Aleatorische Demokratie

Bürgerrat Demokratie (Bundesweites Bürgergutachten)

For English Information see: Equality by Lot

Der “Bürgerrat Demokratie” im Jahr 2019 war der Großversuch dieses Verahrens in Deutschland. Bundesweite aleatorische Bürgerbeteiligung hatte es als Planungszellen jedoch schon früher gegeben. Hier dokumentieren wir Entwicklungsschritte und Ergebnisse. 

Im Vereinsmagazin von “Mehr Demokratie” (3/2018) schrieben Anne Dänner (Öffentlichkeitsarbeit) und Roman Huber (Vorstand) zum damaligen Konzept für ein bundesweites Bürgergutachten zur Demokratiereform:

“Es ist höchste Zeit für die Demokratie zu kämpfen. Denn das Vertrauen in diese Staatsform schwindet. Immer mehr Bürger/innen verlieren in den westlichen Demokratien den Glauben an das System. Ganz besonders dramatisch ist dieser Vertrauensverlust bei den Jüngeren.
[…] Für Deutschland ist das neu: Erstmals äußert fast die Hälfte der Befragten ihre Unzufriedenheit mit der Demokratie, nicht nur mit der Politik oder den Politiker/innen.”

Formaler Anknüpfungspunkt war ein Passus im Koalitionsvertrag von Union und SPD, über den Freunde des bundesweiten Volksentscheids schon lange munkeln:

“Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann. Zudem sollen Vorschläge zur Stärkung demokratischer Prozesse erarbeitet werden.“

Der Expertenkommission (die dann nie berufen wurde) wollte Mehr Demokratie e.V. mit den beiden Firmen für Bürgerbeteiligung “nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung” und “IFOK GmbH” die Expertise der Bürger zur Seite stellen: Im ursprünglichen Vorschlag sollten in 16 Planungszellen bundesweit ausgeloste Bürger (ab Alter 16) an verschiedenen Orten über neue Ideen für die Demokratie beraten. Unter anderem um Kosten zu sparen wurde schließlich statt auf 16 einzelne Planungszellen (á 25 Personen =  400) Bürger insgesamt auf einen Bürgerrat mit 160 Personen gesetzt. Dieser tagte an zwei Wochenenden im September 2019 in Leipzig.

Da in diesem Verfahren die Entscheidungs- und nicht die Ideenfindung im Mittelpunkt steht, gingen der Beratung des Bürgerrats Regionalkonferenzen zum “Agenda Setting” voraus.
Das fertige Bürgergutachten mit den Beratungsergebnissen der ausgelosten Bürger wurde am 15. November 2019 der Öffentlichkeit und Politik in Berlin übergeben werden.

Quelle der verwendeten Grafik: Kurzpräsentation der Veranstalter für die ursprüngliche Version

Mit dem schriftlichen Bürgergutachten sollte das Beteiligungsverfahren noch nicht abgeschlossen sein. Im Konzept heißt es:

“In der Phase nach der Übergabe des Bürgergutachtens findet eine zivilgesellschaftliche Begleitung der Politik statt. Auf Bürgerkonferenzen können Abgeordnete, Regierungsvertreterinnen und -vertreter sowie Expertinnen und Experten mit Bürgerinnen und Bürger in einen Dialog über die Umsetzung der Reformvorschläge des Gutachtens treten. In den Bürgerkonferenzen begleiten Bürgerinnen und Bürger die Arbeit der Ausschüsse des Deutschen Bundestages und der Expertenkommission bei der Umsetzung des Bürgergutachtens. In diesem Format können die Bürgerinnen und Bürger nicht nur die Politik unterstützen, sondern im Zweifelsfall auch darauf hinwirken, dass Reformvorschläge nicht verwässert werden oder unter den Tisch fallen.”

Die Kosten des ursprünglichen Projektes gaben die Planer mit etwa 2,75 Millionen Euro an, für das letztlich gewählte Format wurden 1,5 Millionen Euro eingesammelt, wobei es keinerlei staatliche Förderung gibt, obwohl Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Schirmherrschaft übernahm.

Zum “Bürgerrat Demokratie” seien folgende Episoden des Podcast ?Macht:Los! empfohlen:

  1. Zum irischen Vorbild: Die irische Citizens Assembly; Vortrag Prof. David Farrell; Grußwort Staatsrätin Gisela Erler
  2. Ergebnisse des Bürgerrat Demokratie
  3. Übergabe des Bürgergutachtens (Ergebnisse) an Wolfgang Schäuble
  4. Erfahrungsberichte von Teilnehmern (Teil 1)

Update Mai 2019:
Wie schon vor längerem im Newsletter berichtet, wurde das Konzept vor allem aus finanziellen Gründen nochmal angepasst. Es wird jetzt nicht mehr nach dem strengen Verfahren “Planungszelle” gearbeitet, das Projekt nennt sich “Bürgerrat”.
Das Agenda-Setting geschieht im Juni und Juli  in Regionalkonferenzen, für deren Teilnahme sich jeder bewerben kann. Die Beratung der dort entwickelten Ideen für mehr oder andere Demokratie findet an zwei Wochenenden in Leipzig statt (13.-14. und 27.-28. September 2019), die Teilnehmer werden per Los bestimmt, man kann sich dafür nicht bewerben.
Die Ergebnisse sollen dann am 15. November 2019 als “Tag für die Demokratie” in Berlin vorgestellt werden.

Update Juli 2019:
Der neue Ablaufplan

Update Oktober 2019: 

Der Bürgerrat hat nun in Leipzig getagt, an zwei Wochenenden. Das Presseteam berichtete u.a. auf Twitter. Eine kleine Presseauswahl steht unten.
Dass  sich inzwischen die Medien für das Projekt interessieren, ist erfreulich. Allerdings muss man korrigieren, was im Überschwang nun häufig kolportiert wird: so etwas wie den bundesweit ausgelosten Bürgerrat habe es noch nie gegeben. Es gab bereits viel früher große Planungszellen, deren Mitglieder  (=Bürgergutachter) nicht nur aus einer einzelnen Kommune ausgelost wurden, sondern z.B. bayernweit oder in ganz Rheinland-Pfalz – oder auch aus ganz Deutschland wie 1991 beim Bürgergutachten zu ISDN mit 519 Teilnehmern in acht Städten (mit 22 Planungszellen!) oder dem Bürgergutachten “Zukünftige Energiepolitik” aus dem Jahre 1983 mit 485 Bürgern in sieben Städten.

Die zentralen Empfehlungen bzw. Forderungen des Bürgerrats
(vom 28. September 2019):
Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie (mit 156 Ja-Stimmen zu einer Nein-Stimme)
Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch Kombination von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie (155:2)
Volksentscheiden soll immer ein Bürgerrat vorgeschaltet sein, um die Fragestellungen vorzubereiten und Informationen zusammenzutragen. (140:17)
Es soll ein angemessenes Quorum bei Volksentscheiden geben. (141:15)
Es soll ein Vetorecht durch Volksentscheid im Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene geben. (133:24)
Eine staatliche Finanzierung von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie muss gewährleistet sein. (156:1)
Gesetzliche Verankerung eines bundesweiten Bürgerrats (152:5)
Einberufung bundesweiter Bürgerräte durch Bevölkerung/ Parlamente/ Regierung (153:4)
Die Regierung muss sich zu Empfehlungen der Bürgerbeteiligung verpflichtend äußern. (155:2)
Es soll zur Schaffung von mehr Transparenz ein Lobbyregister auf Bundeseben geben. (153:4)

An der Abstimmung haben 157 Mitglieder des Bürgerrats teilgenommen.
Der Bürgerrat Demokratie ist ein Projekt von Schöpflin-Stifung und Mehr Demokratie e.V.. Die Kosten von etwa 1,5 Millionen Euro werden durch Spenden und Stiftungsmittel getragen (vor allem von Mercator, staatliche Unterstützung bekommt der Bürgerrat nicht. Mit der Durchführung des Projektes sind die beiden Firmen nexus  und Ifok beauftragt. Das am 15. November überreichte Bürgergutachten wird neben den Hauptforderungen auch viele Details der Beratungen enthalten.

Update November 2019

Ausführliche Eindrücke von der Präsentation der Beratungsergebnisse am “Tag der Demokratie” und der Übergabe des Gutachtens an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gibt es in der 8. Folge des Podcasts ?Macht:Los!

Links: 

Aktuelle Projektseite:
buergerrat.de 

Arbeitsprogramm des Bürgerrats Demokratie:
https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/programm_buergerrat.pdf (pdf)

Mehr Demokratie, Artikel (S. 4 bis 8) (pdf)
https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2018-07-02_mdmagazin03-2018.pdf

Forschungsjournal Soziale Bewegungen (S. 169-175): Experiment Bürgergutachten
http://forschungsjournal.de/jahrgaenge/2018heft1-2

Thema bei der Mitgliederversammlung “Mehr Demokratie”
https://www.mehr-demokratie.de/ueber-uns/organisation/mitgliederversammlung/volle-fahrt-voraus/

Nexus
https://nexusinstitut.de/

IFOK
https://www.ifok.de/

Ergänzungsvorschlag: paralleles Jugendvotum per Youth Citizens Jury
https://www.aleatorische-demokratie.de/jugendliche-zur-demokratiereform-beraten-lassen/

Pressespiegel (Auswahl)

+ Kurzbericht nach Abschluss des Bürgerrats: Informieren, Diskutieren, Abstimmen (Telepolis, 4.10.2019)

+ Kommentar Deutschlandfunk Kultur: Mehr Demokratie von unten wagen (7.10.2019)

+ Podcast zu den Ergebnissen des Bürgerrats: ?Macht:Los! (Episode 7)

+ Kommentar SZ: Frischzellenkur für die Demokratie (13.09.2019)

+ Interview mit Günther Beckstein FAZ: Die Menschen sind in einer Protesthaltung (12.09.2019)

+ Pressegespräch zum Auftakt des Bürgerrats als Video auf Facebook (u.a. mit Günther Beckstein)

+ Politiker Günther Beckstein hat den Vorsitz im Bürgerrat übernommen/ angetragen bekommen. dpa Agenturbericht (12.09.2019)

+ Impulse zur europäischen Bewegung für aleatorische Demokratie: “Das große Demokratie-Los

+ Zusagequote von nur 3% erwartet, in 98 Kommunen werden die 160 Teilnehmer des Bürgerrats ausgelost. Bürgerrat: Luckenwalder sollen über Demokratie mitreden. Märkische Allgemeine, 4. Juli 2019

+ Videokommentar zur theoretischen Ablehnung des Losverfahrens (5 Minuten, Ardalan Ibrahim)

Nachfolgeprojekte

Bürgerrat “Deutschlands Rolle in der Welt”
Bürgerrat Klima

 

Erstveröffentlichung des Beitrags: 24.11.2018
Seitdem vielfach aktualisiert