Aleatorische Demokratie

Schöffen sind kein Beispiel für aleatorische Demokratie

Wenn Beispiele heutiger Praxis aleatorischer Demokratie benannt werden, kommen immer wieder die Gerichtsschöffen ins Spiel. Schöffen sind juristische Laien, die als Vertreter der Bevölkerung in vielen Gerichtsverfahren mitwirken – und dann stets bei der Abstimmung gleichberechtigt mit dem oder den Berufsrichtern. Beim Amtsgericht kommen zwei Schöffen zu einem Berufsrichter, ebenso bei der kleinen Strafkammer der Landgerichte. Die großen Strafkammern und Schwurgerichte der Landgerichte werden aus je drei Berufsrichtern und zwei Schöffen gebildet (Gerichtsverfassungsgesetz GVG § 76 u.a.).
Die Schöffen werden in Deutschland jedoch nicht ausgelost, wie immer wieder angenommen wird, sondern von den Gemeinden benannt (§ 36 GVG). Regelmäßig rufen die Amtsgerichte daher zur Bewerbung für dieses fünfjährige Ehrenamt auf. Zu Beginn ihrer Amtszeit sollen Schöffen zwischen 25 und 69 Jahre alt sein, und es gibt weitere Einschränkungen.
Schöffen bilden damit in Deutschland keineswegs eine zufällige Auswahl der Bevölkerung. Vielmehr entstammen sie ganz überwiegend einer Gruppe der an diesem Amt Interessierten, sie wählen sich also selbst aus.

Anders ist es in Österreich: Dort werden die Schöffen tatsächlich aus der Bevölkerung gelost, nämlich 0,5 Prozent (in Wien: 1 Prozent) der Wähler im Alter zwischen 25 und 65 Jahren, wobei es auch dort einige Ausschlusskriterien gibt (wie mangelnde Deutschkenntnisse, Hauptwohnsitz im Ausland etc.). Geregelt ist dies im Bundesgesetz vom 25. April 1990 über die Berufung der Geschworenen und Schöffen.

In den USA schließlich, die stets als Musterbeispiel der Schöffenauslosung stehen, werden die Geschworenen auch nicht strikt aleatorisch bestimmt, weil es zahlreiche Möglichkeiten für die Prozessparteien gibt, vorgesehene Schöffen abzulehnen. Filme wie “Das Urteil – Jeder ist käuflich (Runaway Jury)” aus dem Jahr 2003 mit Dustin Hoffman, Gene Hackman und John Cusack haben daher zurecht ein negatives Image geprägt (vgl. etwa den Einwand von Jörg Sommer im Podcast-Streitgespräch “?Macht:Los!” Folge 1).

Das Gerichtswesen ist dennoch der gesellschaftliche Bereich, in dem Rudimente der Auslosung am stärksten erhalten geblieben sind. So waren in Deutschland von 1871 bis 1924 an den sog. Schwurgerichten drei Berufsrichter und zwölf Geschworene tätig.
Bei sehr kleine Gruppen (12 Geschworene) oder gar Einzelpersonen (zwei ehrenamtliche Richter bei einer Verhandlung) ist es allerdings in der Tat nicht sinnvoll, ohne weitere Kriterien aus der Gesamtbevölkerung auszulosen, denn repräsentativ können diese winzigen Stichproben nie sein. Ob man die sog. Laiengerichtsbarkeit ändern könnte, müsste oder sollte, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Hier ist für den Moment nur wichtig festzuhalten: in Deutschland sind Schöffen kein Beispiel für praktizierte Auslosung (und auch in anderen Ländern wie Österreich oder den USA sind die Schöffen kein Beispiel für “Mini Publics”, also Miniaturausgaben “des Volkes”.

Timo Rieg

Siehe zum österreichischen Verfahren der Schöffen-Bestellung:
Tamara Ehs:
Die demokratische Gleichheit des Loses: Aus der Nische des Rechtswesens zurück in die Polis
Momentum Quarterly, Vol. 8, No. 1 (2019)
DOI: https://doi.org/10.15203/momentumquarterly.vol8.no1.p14-25

 

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