Von Hans-Liudger Dienel und Timo Rieg
Bürgerbeteiligung boomt, und ganz besonders Verfahren mit Auslosung erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Doch es mangelt an Qualitätsstandards. Der Beitrag zeigt aufgrund langjähriger Praxiserfahrung, worauf es bei aleatorischer Bürgerbeteiligung ankommt, damit die Ergebnisse am Ende nicht mit Methodenkritik in Zweifel gezogen werden können.
1 Einleitung
Auf der kommunalen Ebene hat sich die deliberative Bürgerbeteiligung in den vergangenen Jahren sichtbar verstärkt. Von den 100 deutschen Großstädten (über 100.000 Einwohner) haben inzwischen fast alle ein eigenes Referat für Bürgerbeteiligung, zumeist machtnah direkt beim Oberbürgermeister angesiedelt. Diese Referate sind zumeist in den vergangenen fünf Jahren eingerichtet worden. Die Gruppe dieser kommunalen Partizipationsbeauftragten im Netzwerk Bürgerbeteiligung hat inzwischen über 80 Akteure, das Netzwerk Bürgerbeteiligung insgesamt sogar über 800 Mitglieder.1
Viele Kommunen haben Leitlinien für Bürgerbeteiligung verfasst, einige haben sich sogar Satzungen gegeben und damit auch Anspruchsgrundlagen geschaffen. Der Beauftragte für Bürgerbeteiligung der Stadt Konstanz, Martin Schröpel, bringt es so auf den Punkt: “Ein Bürgermeister, der keine Bürgerbeteiligung will, braucht heute gar nicht mehr anzutreten.”2Auch rechtlich hat sich einiges getan: Die Kommunalverfassungen (Gemeindeordnungen) haben die frühzeitige, gestaltende Öffentlichkeitsbeteiligung in den letzten Jahren in mehreren Bundesländern verbindlich gemacht. So weit, so schön.
Auf der anderen Seite hat sich die Bürgerbeteiligung in ihren qualitativen Standards nicht genügend verändert. Nach wie vor gibt es keine verbindlichen Mindeststandards für Bürgerbeteiligungsprozesse. Viele Beteiligungsprozesse sind notorisch unterfinanziert und schon finanziell nicht geeignet, qualitativ hochwertige Bürgerbeteiligung zu garantieren. Wenn sich dies in den nächsten Jahren nicht ändert, kann es sein, dass Beteiligungsprozesse mehr Enttäuschung als wachsendes Systemvertrauen in das Funktionieren der Demokratie produzieren. Das gilt für die Auswahl der zu bearbeitenden Probleme, die (Zufalls-)Auswahl der Bürger/innen und Experten/innen, die Länge und Tiefe der Deliberation und die Einspeisung der Ergebnisse in den Entscheidungsprozess.
Wenn wir fragen, warum die Qualitätssicherung und Standardisierung von Beteiligungsprozessen so schleppend verläuft, kommen mehrere Antworten: Zum einen sind die Protagonisten der Bürgerbeteiligung selbst dafür verantwortlich. Sie bestehen (zu Recht) auf der Individualität eines jeden Beteiligungsprojekts und unterschätzen dabei die Kollateralschäden dieses Festhaltens an der informellen Beteiligung. Zum anderen sind die Vertreter der repräsentativen Demokratie und die fachlich legitimierte Verwaltung trotz anderslautender Lippenbekenntnisse oftmals ganz froh, dass die Bürgerbeteiligung keine genügenden Qualitätsstandards hat. Sie empfinden die (frühzeitige) bürgerschaftliche Mitwirkung an der staatlichen Planung nach wie vor oftmals als Konkurrenz: die Gewählten, wenn sie sich als die einzigen Repräsentanten der Bürgerschaft verstehen, und die Verwaltung, wenn sie durch die Beteiligungsverfahren ihren Expertenstatus infrage gestellt sieht. Um gleichwohl dem gewachsenen Anspruch der Bürger und der öffentlichen, auch medialen Erwartung an Beteiligung zu begegnen, werden nicht selten Partizipationsformate angeboten, die engagierten, vor allem auch kritischen Einwohnern zwar Raum zur Meinungskundgabe und ggf. auch Ideenentwicklung geben, die aber in mancherlei Hinsicht nicht den über die Jahre entwickelten Qualitätsstandards genügen.
Besonders problematisch sind fachlich unzureichende Beteiligungsverfahren, wenn sie auf ausgeloste Teilnehmer setzen, was gerade an Popularität gewinnt. Denn Losverfahren vermitteln den Eindruck großer Unabhängigkeit, Fairness und Chancengleichheit, letztlich besonderer demokratischer Qualität. Umso schlimmer, wenn die Ergebnisse dieser hohen Erwartung der Bürger nicht gerecht werden, weil fahrlässig oder gar vorsätzlich nicht “state of the art” gearbeitet wurde.
Die Notwendigkeit besonderer fachlicher Kompetenz bei Bürgerbeteiligung mit Zufallsauswahl soll im Folgenden begründet und inhaltlich skizziert werden. Empirisch gestützt sind die Überlegungen vor allem von langjährigen Erfahrungen mit dem Verfahren Planungszelle bzw. Bürgergutachten (Dienel et al. 2014).
2 Bürgerbeteiligung per Los
Allenthalben sind neuerdings Forderungen nach gelosten Bürgerversammlungen zu vernehmen. Schüler fordern einen ausgelosten Bundesjugendrat und Studenten werben mit der Parole “Mehr als Wählen” für Partizipation per Los. Von Münster bis Freiburg fordern Bürgerinitiativen kommunale Beteiligung – nicht der Lobbyisten und “üblichen Verdächtigen”, sondern “ganz normaler Bürger”, die daher aus der Bevölkerung per Los bestimmt werden sollen.3
Das neue Interesse an demokratischer Lotterie (Buchstein 2009) dürfte vor allem zwei Ereignissen geschuldet sein: Im Sommer 2016 erschien die deutsche Übersetzung eines drei Jahre alten Buches des Belgiers David Van Reybrouck: “Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist”. Unter anderem dank eines SPIEGEL-Interviews landete das Buch für einige Zeit auf der Bestsellerliste Sachbuch und machte aleatorische4 Demokratie gesellschaftlich diskutierbar. Zum anderen stieß eine mehrjährige Verfassungsreform in Irland, die von ausgelosten Bürgern wesentlich vorbereitet und dann in Volksabstimmungen angenommen wurde, bei deutschen Medien auf ungewöhnlich starkes Interesse, wohl wegen vielfältiger Möglichkeiten fürs Storytelling: Ein kleines, konservatives, katholisches Land erlaubt zunächst die gleichgeschlechtliche Ehe und schafft dann das strikte Abtreibungsverbot ab. Fortschritt per ausgeloster Bürgerversammlung – das ist seitdem ein Narrativ. Und entsprechend inhaltlich konnotiert ist bei mancher Initiative damit die Bürgerbeteiligung per Auslosung, was kritisch zu sehen ist.
Menschen für politische Aufgaben nicht zu wählen, sondern per Zufallslos zu bestimmen, ist eine alte demokratische Praxis, die historisch vor allem mit der Athener Polis verbunden ist (ausführlich: Hansen 1995). Während das Los stets völlig zufällig entscheidet, ist die Festlegung der sogenannten Grundgesamtheit, aus der gelost wird, ein normativer und nicht selten willkürlicher Akt: Nur wer zur Auslosung zugelassen wird, hat die Chance (oder auch das Risiko) ausgelost zu werden. So kann die Grundgesamtheit z. B. die gesamte Bevölkerung eines Stadtteils umfassen, alle Staatsbürger, die Angehörigen einer Universität oder die wahlberechtigte Bevölkerung in einem Landkreis.
Die Auslosung von Bürgern für ein Beratungs- oder Entscheidungsverfahren kommt immer dann in Betracht, wenn bewusst eine zufällige Stichprobe aus der definierten Grundgesamtheit gezogen werden soll. Es gibt dann also weder eine Selbstermächtigung Interessierter (wie bei Bürgerinitiativen, offenen Bürgerforen, Unterschriftensammlungen etc.) noch Delegationsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen (wie bei Runden Tischen, in Rundfunk- und Medienräten etc.). Da der Zufall entscheiden soll, welche Personen für die Bürgerbeteiligung bestimmt werden, muss egal sein, auf wen das Los fällt. Auslosungen sind daher in höchstem Maße egalitär: Jeder Mensch, der zur sogenannten Grundgesamtheit derer gehört, aus denen gelost wird, hat die gleiche Chance auf Beteiligung. Es gibt kein Ranking, keine Prüfung, keine Wahl, keine Lobby.5
Deshalb sind zwei verschieden Anwendungen des Zufalls zu unterscheiden:
- a) Im Standardfall, auf den wir uns hier konzentrieren, wäre eigentlich die gesamte (wahlberechtigte) Bevölkerung einer bestimmten Region (oder eine Teilgruppe davon) zu befragen bzw. an einer Entscheidung zu beteiligen. Da dies nicht praktikabel ist, wenn man mehr möchte als bereits vorhandene Meinungen abzufragen, werden per Los Menschen gewonnen, die stellvertretend für ihre Grundgesamtheit beraten. Damit eine solche Losgruppe einigermaßen realistisch die Vielfalt und Gewichtung der Gesellschaft widerspiegelt, muss sie eine Mindestgröße haben, die u. a. abhängig ist von der Größe der Grundgesamtheit und dem Anspruch an die Reliabilität der Ergebnisse. Zudem muss die Losgruppe robust gegenüber Störungen sein, denn der Zufall ermöglicht ja auch “anstrengenden Zeitgenossen” eine Teilnahme. Die Erfahrungen sprechen für eine absolute Untergrenze von 25 Ausgelosten (siehe unten Stichwort “Realistische Stichprobe”).
Die Vorteile von Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl gegenüber solchen mit Beteiligung aus eigenem Engagement heraus liegen auf der Hand: zu Wort kommt nicht, wer fähig oder geübt darin ist, das Wort zu ergreifen, sondern es werden vielfältige Sichtweisen eingetragen.
Die Kombination von zufallsausgewählten Bürgerräten mit gewählten Abgeordneten hat in Irland ermöglicht, ethische Fragen, die jahrzehntelang von der parlamentarischen Demokratie vertagt wurden (Scheidung, Homoehe, Abtreibung), zu entscheiden. Auch in Ostbelgien haben rechtlich verbindlich eingeführte Bürgerräte mit zufällig ausgewählten Bürgern, grundlegende Entscheidungen ermöglicht; – in Deutschland werden gerade Bürgerräte getestet.6
- b) Eine andere interessante Anwendungsmöglichkeit ist die Auslosung einzelner Ämter, z. B. einer ehrenamtlichen Schiedsperson in der Kommune (Schlichter). In solchen Anwendungsfällen muss anders als bei der Stichprobe sichergestellt werden, dass die Gemeinschaft mit jeder Losentscheidung ähnlich gut leben kann.
Im Feld der Bürgerbeteiligung gibt es solche Einzelauslosungen vor allem, wenn Bürger nur beratend oder gar nur beobachtend an vorhandenen bzw. von der Politik installierten Gremien teilhaben sollen.7 Kennzeichnend ist, dass die zur Auslosung anstehenden Bürger bestimmte Gemeinsamkeiten haben, die sie genau für dieses Beteiligungsverfahren qualifizieren: sie sind z. B. von einer geplanten Baumaßnahme betroffen, sie sind alleinerziehend oder sie haben sich für das Verfahren beworben und bringen so ein gerade nicht zufälliges Engagement ein.
3 Qualitätsansprüche
Für die Bürgerbeteiligung allgemein gibt es inzwischen eine Vielzahl von Guidelines. Beispielhaft seien zwei kurze Qualitätskataloge zitiert. So formuliert die “Allianz Vielfältige Demokratie”, ein “von der Bertelsmann Stiftung initiierte Netzwerk mit Vordenkern und Praktikern aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft”, dessen Koordination seit Juli 2018 vom Berlin Institut für Partizipation wahrgenommen wird, das dieses Kursbuch verlegt:
Gute Bürgerbeteiligung
… lebt von der Bereitschaft zum Dialog.
… beachtet die Themen, die Akteure und die Rahmenbedingungen.
… braucht klare Ziele und Mitgestaltungsmöglichkeiten.
… beginnt frühzeitig und verpflichtet alle Beteiligten.
… braucht ausreichende Ressourcen.
… ermöglicht vielfältige Mitwirkung.
… erfordert die gemeinsame Verständigung auf Verfahrensregeln.
… braucht eine sorgfältige und kompetente Prozessgestaltung.
… basiert auf Transparenz und verlässlichem Informationsaustausch.
… lernt aus Erfahrung.
Das breiter angelegte “Netzwerk Bürgerbeteiligung” (koordinierte von der Stiftung Mitarbeit), das sich für die Ausgestaltung der “partizipativen Demokratie” einsetzt, formuliert:
Gute Bürgerbeteiligung…
- … braucht die Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog.
- … braucht Ressourcen und klare Ziel- und Rahmensetzungen.
- … nutzt die vorhandenen Gestaltungsspielräume.
- … ist ein Dialog auf Augenhöhe.
- … ist verbindlich und verlässlich.
- … braucht eine sorgfältige und kompetente Gestaltung des Beteiligungsprozesses.
- … braucht transparente Information.
- … ermöglicht die Mitwirkung aller.
- … lernt aus Erfahrung.
- … ist in eine lokale Beteiligungskultur eingebettet.
Dies alles gilt im Wesentlichen auch für Beteiligung per Los, mit dem einen entscheidenden Unterschied natürlich, dass die Teilnahme nicht allen offensteht, sondern nur den Ausgelosten. Die Beteiligung aller Interessenvertreter (einschließlich Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion etc.) muss auf der Input-Seite organisiert werden: Politiker, Lobbyisten, Betroffene, Petenten u.a. sind hier Referenten, die den ausgelosten Bürgern mit ihrer Expertise zur Verfügung stehen und ggf. versuchen, sie von ihren Positionen zu überzeugen.
Für Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl lässt sich daher ergänzend und z. T. abweichend von den beiden zitierten Katalogen sagen:
Bürgerbeteiligung mit Zufallsauswahl…
… aktiviert Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen.
… überlässt die Teilnehmerauswahl dem Los.
… ist vor allem ein Gespräch der Bürger untereinander.
… dient der informierten Meinungsbildung.
… startet mit bereits festgelegten Verfahrensregeln.
… verlangt vom Auftraggeber echtes Interesse an den Beratungsergebnissen.
… dienen nicht der Akzeptanzbeschaffung für bereits getroffene Entscheidungen.
5 Spezielle Qualitätsanforderungen
a) Rahmenbedingungen
* Klare Aufgabenstellung
Mehr als bei jeder anderen Form von Bürgerbeteiligung muss bei Auslosung der Teilnehmer klar sein, um was es geht, was von wem erwartet wird, was möglich ist. Denn von dem oben genannten und hier nicht weiter zu vertiefendem Sonderfall abgesehen, dass Bürgere zunächst ihre Bereitschaft erklären, an einer bestimmten Auslosung teilzunehmen, fällt mit der Losziehung den betroffenen Bürgern eine gesellschaftliche Aufgabe zu, um die sie sich nicht beworben haben, von der sie möglicherweise zuvor noch nicht einmal entfernt gehört hatten. Schon für die Teilnahmebereitschaft ist es daher elementar, dass es keine Missverständnisse über Chancen und Grenzen des Engagements gibt. Und wer sich aufgrund seiner Auslosung mit einer das Gemeinwohl betreffenden Angelegenheit befasst, Zeit investiert, viele Gespräche führt und um ein gutes Ergebnis ringt, darf sich am Ende nicht über die Spielregeln getäuscht sehen. Vor allem Anderen muss daher klar sein:
– Was sind die Aufgaben der ausgelosten Bürger?
– Wie wird das Beteiligungsverfahren ablaufen? (Zeit, Orte, Infrastruktur, Ressourcen)
– Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben die Bürger?
– Was soll am Ende mit den Ergebnissen der Bürgerbeteiligung geschehen?
* Transparenz des Verfahrens
Ausgeloste und damit unmittelbar beteiligte Bürger wie auch die Bürgerschaft insgesamt müssen von Anfang an wissen, wie das Bürgerbeteiligungsverfahren ablaufen soll und wie mit den Ergebnissen umgegangen wird. Dazu gehört, vorhandene Interessen und institutionelle oder rechtliche Vorgaben deutlich zu benennen. So müssen etwa Geldgeber eindeutig benannt werden, egal ob es sich um öffentliche oder private Quellen handelt. Wenn sich ein Stadt- oder Gemeinderat in einer Sachfrage nicht einig wurde und deswegen ausgeloste Bürger hinzuzieht, sind die vorhandenen Probleme klar zu benennen. Denn die ausgelosten Bürger dürfen sich nicht instrumentalisiert fühlen.
Für die Allgemeinheit muss am Ende der gesamte Prozess nachvollziehbar sein.
* Unparteiliche Durchführung des Bürgerbeteiligungsverfahrens
Die konkrete Organisation einer Bürgerbeteiligung mit Zufallsauswahl muss so unabhängig und neutral wie möglich erfolgen. Bei Planungszellen gehört die Neutralität des sog. “Durchführungsträgers” zu den unverrückbaren Grundbedingungen des Verfahrens. Böse Zungen mögen dies für ein kluges Geschäftsmodell der Firmen und Institute halten, die Bürgerbeteiligung organisieren. Allerdings wäre die Durchführung ausgeloster Bürgerbeteiligung durch Politik und Verwaltung ebenso ein Geschäftsmodell – allerdings eines, bei dem es um weit mehr als einen einzelnen Auftrag geht, nämlich zusätzlich um die ergebnisorientierte Steuerung demokratischer Bürgerbeteiligung. Wenn jedoch die Bürger den Eindruck haben, ein Beteiligungsverfahren werde nicht neutral organisiert, ist nicht nur das konkrete Ergebnis unbrauchbar, sondern es nimmt das Gemeinwesen Schaden. Eine einzelne Interessengruppe mag dankbar sein für parteiliche Förderung ihrer Anliegen, eine ausgeloste, möglichst repräsentative Bürgerbeteiligung wird an jedem Versuch der Einflussnahme auf ihre Arbeit scheitern. Für kommerzielle Partizipationsgestalter ist es daher das höchste Gut, am Ende eines Beteiligungsverfahrens von den Bürgern attestiert zu bekommen, den Prozess neutral und unparteiisch moderiert zu haben.
* Realistische Stichprobe
Die Zufallsauswahl garantiert zwar keine statistische Repräsentativität der Ergebnisse – dafür sind die Zahlen der beteiligten Bürger i. d. R. zu klein – wohl aber eine gesellschaftlich akzeptierte Repräsentativität, da potenziell jeder die gleichen Teilnahmechancen hat. Von großer Bedeutung für die Akzeptanz des Verfahrens und der erarbeiteten Ergebnisse ist daher die korrekte, nachvollziehbare und transparente Durchführung der Zufallsauswahl. Damit nicht einzelne den Beteiligungsprozess zu stark beeinflussen oder gar dominieren können, muss die Stichprobe mindestens 25 Personen umfassen. 100 ausgeloste liefern bereits sehr solide Ergebnisse, die sowohl in der Grundgesamtheit klar mehrheitsfähig sind als auch kaum mal einen wichtigen Detailaspekt übersehen (“kollektive Intelligenz”) (vgl. Dienel 2002).
* Ermöglichung der Teilnahme
Anspruch jedes Losverfahrens in der Bürgerbeteiligung ist es, eine möglichst hohe Zusagequote zu erreichen. Denn jede einzelne Absage ist eine negative Selbstselektion, welche die gesellschaftliche Vielfalt und realistische Vertretung von Interessen, Erfahrungen und Meinungen schwächt. Daher müssen Hilfs- und Kompensationsangebote, die Teilnahmehindernisse beseitigen können, höchste Priorität genießen.
Die Anerkennung der Tätigkeit ausgeloster Bürger als Arbeit, als eine Leistung für die Gesellschaft, ist eine elementare Voraussetzung für die erwünschte Rolle der Bürger, ihr Selbstverständnis und ihre Arbeitsbereitschaft. Deshalb ist eine finanzielle Honorierung oder wenigstens Aufwandsentschädigung unerlässlich, zumal die Bürger bei jedem Beteiligungsverfahren mit allerhand Menschen zu tun haben, die eben nicht “ehrenamtlich”, sondern beruflich und damit bezahlt anwesend sind: Bürgermeister, Verwaltungsmitarbeiter, Lobbyisten, Moderatoren u. v. m. Da die Bürger in Beteiligungsverfahren ohne jeden Zweifel die Hauptrolle spielen müssen, dürfen sie sich nicht als Freizeitgruppe fühlen, mit der andere ihr Geld verdienen (für dieses Missverhältnis sind viele Menschen sehr sensibel, Gespräche über die vermuteten Personal- und Sachkosten kann man bei vielen Veranstaltungen aufschnappen).
Wer durch seine per Los bestimmte Mitwirkung an einem Beteiligungsprozess Kosten und/oder Verdienstausfall hat, muss dies erstattet bekommen. Wer sich eigentlich um Kinder, pflegebedürftige Alte oder seinen Bauernhof kümmern muss, braucht personelle Vertretung.
* Wertschätzung der Bürger
Auch wenn die Anforderungen einer Teilnahmeermöglichung mit Honorierung u. a. bereits eine große finanzielle Herausforderung für den Veranstalter ist, darf dies keinesfalls zu einem hierarchischen Bild von Arbeitgeber und Arbeitnehmern führen. Bürger sind keine Dienstleister für Politik und Verwaltung, sondern stets der Souverän, ausgeloste Bürger sind entsprechend dessen Stellvertreter. Deshalb sollen sie sich während des gesamten Bürgerbeteiligungsverfahrens wertgeschätzt fühlen. Gutes (bzw. zielgruppengerechtes) Essen, attraktive Räume, Fahrdienste, kulturelles Rahmenprogramm und vieles mehr können dazu beitragen.
b) Beteiligungsprozess (Durchführung)
* Vollständige Informationen
Den ausgelosten Bürgern müssen alle relevanten Informationen zu ihrem Arbeitsthema in geeigneter Weise zur Verfügung stehen. Dazu gehören nicht nur die Positionen etwa aller Rats-Fraktionen, sondern auch die (widerstreitenden) Expertisen interner und externer Fachleute, eingegangene Einzelhinweise von Bürgern, Argumentationen von Lobbyisten, Betroffenen usw. Denn viel wichtiger, als dass in einer ausgelosten Bürgergruppe jedes Bevölkerungsmerkmal exakt statistisch vertreten wird, ist die Berücksichtigung aller Interessen, Ideen und Einschätzungen auf der Input-Seite. Auch hierfür ist die bereits oben genannte unabhängige Durchführung unerlässlich.
Bewährte Formate sind Kurzvorträge und multimediale Themenaufbereitungen, Politiker-Hearings, Ortsbesichtigungen etc.
* Ungestörte Meinungsbildung
Während bei vielen Bürgerbeteiligungsformaten die Teilnehmer bereits mit einer Meinung zur anstehenden Sachfrage starten (denn deshalb engagieren sie sich), sollen mit der Zufallsauslosung bewusst auch Menschen rekrutiert werden, die sich noch keine Meinung gebildet haben, die vom betreffenden Sachverhalt vielleicht sogar noch nie etwas gehört haben (an ihnen orientiert sich die Informationsaufbereitung).
In Formaten ausgeloster Bürgerbeteiligung muss sichergestellt werden, dass sich jeder (im Austausch mit den anderen Teilnehmern) im Verlauf der Veranstaltung eine eigene Meinung bilden kann. Es muss möglich sein, ohne Ansehensverlust von früheren Positionen abzurücken, man muss sich am Ende nicht rechtfertigen für die Meinung, die man sich während der intensiven Beschäftigung mit einem Thema gebildet hat, man darf aber auch unentschlossen bleiben. Weil dies den Gepflogenheiten im “normalen Leben” widerspricht, bedarf es einer aktiven Ermöglichung dieser freien Meinungsbildung. Dazu gehört – tausendfach bewährt -, dass Diskussionen nur in wiederum zufällig zusammengestellten Kleingruppen geführt werden und nicht in einem großen Plenum. Nur so kommt jeder ausreichend zu Wort, nur so ist Meinungsvielfalt möglich, nur so kommen Aspekte zur Sprache, an die in den großen Fensterreden nicht gedacht wird. Immer wieder neue Kleingruppen verhindern Hierarchie- wie Fraktionsbildung: jeder Zwischenton ist möglich, da jeder mit jedem (irgendwann) ins Gespräch kommt finden sich ganz neue Gedankenkonstellationen.
Aus Planungszellen erprobt und bewährt ist ferner, dass die Bürger nicht mit Experten, Politikern oder anderen nicht-ausgelosten Personen diskutieren müssen. Sie können diese an den entsprechenden Stellen befragen, aber der Austausch darüber und die Meinungsbildung findet stets ohne Politik, Verwaltung, Lobbygruppen o. ä. statt: schon rein formal haben die Bürger das letzte Wort. Es versteht sich daher von selbst, dass der Meinungsbildungsprozess ausgeloster Bürger nicht öffentlich ist, die Kleingruppen (ca. 5 Personen) tagen ohne Moderatoren oder sonstige Prozessgestalter, und es gibt natürlich keine Aufnahmen, keinen Internet-Stream oder ähnliches.
Nicht zu unterschätzen sind für den Meinungsbildungsprozess auch die formalen Pausen (denen etwa ein Drittel der Veranstaltungszeit gehören sollte). Pausen sind ein integraler Bestandteil und ein Erfolgsgeheimnis gerade aleatorischer Bürgerbeteiligung, bei der es normalerweise nur wenige oder keine bestehenden Bekanntschaften gibt: sie ermöglichen informelle Interaktionschancen und Rollenwechsel für die Bürger außerhalb der Kleingruppen, in leicht anderer, lockerer Atmosphäre ohne Aufgabenstellung. Pausen dürfen ein wenig an die „Open Space“-Methode erinnern, die ihr Erfinder Harrison Owen auch als institutionalisierte Kaffeepause bezeichnet hat.
* Veröffentlichung der Ergebnisse
Die Beratungsergebnisse der ausgelosten Bürger müssen in geeigneter Form dokumentiert werden, um eine sichere, eindeutige Grundlage für die weitere (politische) Arbeit zu haben. Bei Planungszellen werden die oft sehr umfangreichen Ergebnisse in sogenannten “Bürgergutachten” zusammengefasst, die auch das Beratungsverfahren, die eingetragenen Informationen, die Arbeitsphasen und vieles mehr enthalten, was den Prozess transparent und die Ergebnisse nachvollziehbar macht. Solche Gutachten werden nicht von den Bürgern selbst geschrieben, sondern wegen des erheblichen Arbeitsaufwands von Mitarbeitern der Firma, die das Beteiligungsverfahren organisiert. Bei den bisher einzigen beiden Jugendforen als Youth Citizens Jury hingegen haben die ausgelosten Jugendlichen am Ende ihrer Beratungen auch ihre Ergebnisse selbst in ein Kurzgutachten gebracht.
Die Beratungsergebnisse der Bürger sollten dem Auftraggeber (z. B. Kommune) in einem dem Aufwand des Verfahrens gemäßen Rahmen übergeben werden und zugleich der Öffentlichkeit vorgestellt und dauerhaft zugänglich gemacht werden.
* Umgang mit den Ergebnissen
Wie der Auftraggeber mit den Arbeitsergebnissen ausgeloster Bürger umgehen will, wurde bereits vor Beginn des Verfahrens festgelegt (Stichwort “Aufgabenstellung”). Das tatsächliche weitere Procedere muss daher ebenfalls kommuniziert werden, und zwar einerseits öffentlich, andererseits aber auch direkt an die Beteiligten. Es gehört zum Follow-up, die einst ausgelosten Bürger auch nach Abschluss des Beteiligungsverfahrens über die Entwicklung zu informieren und für ihre Rückmeldungen offen zu sein.
6 Ausblick
Wesentliche Impulse erhält der Standardisierungs- und Qualitätssicherungsimpuls der Zufallsauswahl durch den internationalen Vergleich. Im vergangenen Jahr haben diejenigen Institute, die zufallsauswahlbasierte Mini-Publics anbieten, ein internationales Forum für den kontinuierlichen Vergleich der Prozessqualität geschaffen8. Hier werden die wichtigsten, international relavanten Projekte vorgestellt und kritisch diskutiert. Es steht zu hoffen, dass durch kontinuierliche Vergleiche und Rankings die deliberativen Verfahren eine ähnliche Standardisierung und Qualitätssicherung erreichen, wie die Abstimmung in der parlamentarischen Demokratie.
Literatur
Buchstein, Hubertus (2009): Demokratie und Lotterie, Frankfurt a.M.
Dienel, Hans-Liudger/ Kerstin Franzl/ Raban Fuhrmann/ Hans Lietzmann/ Antoine Vergne (Hrsg.) (2014): Die Qualität von Bürgerbeteiligungsverfahren. Evaluation und Sicherung von Standards am Beispiel von Planungszellen und Bürgergutachten, München: Ökom-Verlag.
Dienel, Peter C (2002). Die Planungszelle. Zur Praxis der Bürgerbeteiligung: Demokratie funkelt wieder. Friedrich-Ebert-Stiftung, Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat.
Dienel, Peter (2009): Demokratisch, praktisch gut. Merkmale, Wirkungen und Perspektiven von Planungszellen und Bürgergutachten, Bonn: Dietz.
Gastil, John (2000): By popular demand: Revitalizing representative democracy through deliberative elections. Univ of California Press.
Gastil, John/ Robert Richards (2013): Making direct democracy deliberative through random assemblies. In: Politics & Society 41.2 (2013): 253-281.
Hansen, Mogens Herman (1995): Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin.
Anmerkungen
1 Siehe dazu: www.netzwerk-buergerbeteiligung.de.
2 Zitat aus einem Vortrag bei der Tagung “Make Participation great again” des Procedere-Verbandes in der Ev. Akademie Loccum am 21. Januar 2019.
3 Aktuelle Nachweise unter: www.aleatorische-demokratie.de.
4 Das Adjektiv “aleatorisch” ist vom lateinischen Wort “alea” abgeleitet, was Würfel bedeutet. Mit Würfeln lassen sich wie bei einer Lotterie Zufallszahlen ermitteln, die z.B. Personen zugeordnet sind und von denen so die benötigte Anzahl ausgelost wird. Zum Begriff vgl. Buchstein, Hubertus (2012): “Die Legitimitätspolitik der Aleatorischen Demokratietheorie”, in: Anna Geis/ Frank Nullmeier/ Christopher Daase (Hrsg.): Der Aufstieg der Legitimitätspolitik – Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Ordnung, Leviathan, 40. Jg., Sonderband 27, S. 359-376.
5 Siehe hierzu ausführlich den Beitrag “Repräsentative Bürgervoten dank Teilnehmer-Auslosung” im Kursbuch Bürgerbeteiligung Band 2, S. 315-331.
6 Siehe: https://www.buergerrat.de/.
7 So hat die Stadt Eckernförde 2018 eine Arbeitsgruppe gebildet, die Leitlinien für mehr Bürgerbeteiligung erarbeiten soll. Von den 18 Mitgliedern stammt jeweils ein Drittel aus der Verwaltung, der Ratsversammlung und der interessierten Bürgerschaft. Für die sechs “Bürgerplätze” gab es 30 Bewerbungen, aus denen gelost wurde, und zwar geschichtet und quotiert: je eine Frau und ein Mann für die drei Altersgruppen 16 bis 26 Jahre, 27 bis 55 und über 56 Jahre.8 Siehe dazu: www.democracyrd.org.
Zitation:
Dienel, Hans-Liudger/ Timo Rieg (2019): Qualitätsstandards von Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl. In: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung Band 3. Verlag Deutsche Umweltstiftung: 191-205.