Aleatorische Demokratie

Citizens Assembly: So viel Zustimmung macht skeptisch

Citizens’ Assemblies sind derzeit in aller Munde. Die Idee, politische Entscheidungen durch ausgeloste Bürger vorbereiten oder sogar treffen zu lassen, anstatt von gewählten Abgeordneten, ist keineswegs neu – die wachsende Zustimmung zu diesem Verfahren aber doch. Und das muss einen misstrauisch machen.

Denn die wenigsten Menschen sind wirklich altruistisch im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, also: gemeinwohl- statt eigenwohlorientiert. Das wäre keine biologisch erfolgreiche Strategie, wie jeder Blick in die Evolutionsgeschichte zeigt.

Deshalb waren bis vor Kurzem auch praktisch alle Lobbyisten mehr oder weniger offen gegen aleatorische Verfahren: weil sie ihren eigenen Einfluss strikt kanalisieren würden, hinaus aus den Hinterzimmern hin auf die Bühne, die von der gelosten Jury oder Assembly genau beobachtet, befragt und später bewertet wird.

Die große Erweckung kam in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern mit dem Volksentscheid in Irland, Abtreibung unter bestimmten Kriterien zu legalisieren. Denn dass sich die Bürger in diesem kleinen, katholischen, als konservativ geltenden Land zu dieser Verfassungsänderung durchgerungen haben, galt ausländischen Beobachtern als “Zeitenwende“.

Für die meisten journalistischen Kommentatoren wie auch Demokratie-Aktivisten war dies die (einzig) richtige Entscheidung, die Bürger haben das gemacht, was “man” von ihnen erwartet. Und weil dieser Abstimmung die Beratung in einer ausgelosten Bürgerversammlung vorangegangen war, die am Ende eine Aufhebung des strikten Abtreibungsverbots empfohlen hatte, war eine moderne Heldenstory geschaffen: Mit der Citizens’ Assembly zu Emanzipation, Fortschrittlichkeit, Anti-Populismus…

Hätten sich die Iren gegen die Verfassungsänderung entschieden: keiner der neuen Befürworter ausgeloster Bürgerversammlungen würde für dieses demokratische Verfahren eintreten, das ist meine Wette. Demokratie ist dann gut, wenn sie die gewünschten Ergebnisse bringt.

Das merkt man bei allen pro-europäischen Initiativen, die sich für mehr oder bessere Demokratie einsetzen. Die Agenda ist vorgegeben, es beteiligt sich eh nur, wer entsprechend denkt (und entsprechenden Nutzen von der EU hat), die Ergebnisse sind voraussagbar.

Aleatorische Demokratie führt zu den besten Entscheidungen – Entscheidungen, die von der Mehrheit getragen sind, die am wenigsten Leid verursachen und im Idealfalls die größtmögliche Zufriedenheit erzeugen. Wer dem Verfahren aber nur bei ausgewählten Themen vertraut, wer glaubt, seine persönlichen Interessen oder Überzeugungen mit diesem demokratischen Instrument durchsetzen zu können, missbraucht die große, notwendige Debatte um Reformen. Und wer meint, entscheiden zu können, welche Fragen sich für die Beratung und ggf. Entscheidung durch “normale Bürger” eignen und welche nicht, befindet sich nicht auf dem Boden der Demokratie, sondern der Aristokratie, einer selbsternannten Elitenherrschaft.

Wer sich wirklich für aleatorische Demokratie (engl.: Sortition) einsetzen möchte, sollte daher nicht voreilig jedem Rufer nach Citizens’ Assemblies applaudieren. Es bleibt die alte Frage gesunden  Misstrauens: cui bono? wem nützt es?

Timo Rieg

Der Autor, Herausgeber dieses Blogs, beschäftigt sich seit Anfang der 1990er Jahre mit Demokratiereformen und schreibt seit 15 Jahren über das Verfahren Citizens’ Assembly/ Citizens’ Jury.

Links  & Updates:
+ Petition bei change.org
+ BBC Audio “Theresa May Opposes Second Brexit Referendum
+ The Guardian: “A citizens’ assembly could break the politicians’ Brexit deadlock. Rowan Williams, Damon Albarn, Ruth Lister, Laura Janner-Klausner, Jonathan Coe, Ian McEwan, Caitlin Moran, Neal Lawson and 13 others propose a way forward” (vielfach geteilter Beitrag)

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