Aleatorische Demokratie

Wer hat Woidke gewählt?

Spekulationen über individuelles Wahlverhalten bei eigentlich geheimen Wahlen gibt es immer wieder in der Politik – zuletzt in Brandenburg. Haben CDU- oder AfD-Abgeordnete für den SPD-Kandidaten gestimmt? Bei der Zeit heißt es dazu:

>Im zweiten Wahlgang wiederum erhielt Woidke mindestens vier Stimmen von Oppositionsabgeordneten. Zwölf Sitze im Landtag hat die CDU, 30 die AfD. […]
Die Ministerpräsidentenwahl findet geheim statt. Wer für und wer gegen Woidke stimmte, lässt sich somit nicht unabhängig feststellen. Die CDU-Fraktion will dem Sozialdemokraten keine Stimmen gegeben haben. „Wir haben geschlossen gegen die Wahl von Dietmar Woidke gestimmt“, sagte Fraktionschef Jan Redmann ZEIT ONLINE. Woidke sei der erste Ministerpräsident, „der mit Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde“, sagte Redmann.<

Solche (medialen) Debatten sind unwürdig: Entweder es gibt geheime Abstimmungen, dann verbietet sich jede Spekulation (einschließlich der Annahme, die eigenen Leute müssten ja wohl fast ausnahmslos für den Kandidaten gestimmt haben). Andernfalls legt man offene Abstimmungen fest. Beides hat sein Für und Wider. Wobei in Parlamenten strikt gelten muss: Abgeordnete sind ans Weisungen nicht gebunden – sie müssen in ihrem Abstimmungsverhalten frei sein.

Für und Wider der Vertraulichkeit gibt es übrigens auch bei der Wahl von Abgeordneten und Parteien. Auch hier kann man gegen die heute als selbstverständlich geltende geheime Abstimmung Argumente vorbringen. Es ist demokratisch nicht gerade unbedenklich, wenn jemand öffentlich anderes behaupten und fordern kann, als er dann bei der Machtübertragung entscheidendet.

Siehe hierzu auch: Gespräch über öffentliche und geheime Abstimmungen in Parlamenten mit Prof. Hubertus Buchstein (Archiv, 2014):

Bürgerrat zur Corona-Impfpflicht? Keine gute Idee

Youth Citizens Jury, Bochum 2009

Seit Monaten geistert die Forderung nach einer gesetzlichen, allgemeinen Corona-Impfpflicht durch die Öffentlichkeit. Teilweise galt sie schon fast als beschlossen, teilweise gilt sie als praktisch nicht durchsetzbar, teilweise gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Nun hat der Bundesverband „Mehr Demokratie“ zu dieser polarisierenden Frage einen Bürgerrat vorgeschlagen (Anmerkung 10, am Ende des Textes) – die derzeitige Allzweckwaffe, wenn es um Bürgerbeteiligung im großen Stil geht. Weiterlesen

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Who is behind this website?

Hi, I’m Timo Rieg, a German journalist and biologist (with a Diplom in both subjects, which is the equivalent of a Master’s). I’ve been interested in participatory methods for the last 35 years, starting with my nomination as class representative, board membership of youth committees on all levels at schools, the church, the fire service and university, and finally, like any other citizen, participation in general elections.
My first book „Artgerechte Jugendhaltung“ (in English: „Species-Specific Youth Welfare“, a somewhat satirical title, published 1992) asked whether the original idea of democracy is achievable through general elections and whether delegation is appropriate. Only later did I fully research the theory and models of democracy, before eventually discovering Peter Dienel’s model of citizen participation with members chosen by lottery (Planungszelle, or „citizens‘ jury“). Weiterlesen

Was ist „aleatorische Demokratie“?

Aleatorische Demokratie ist eine Form direkter und zugleich repräsentativer Selbstbestimmung einer autonomiefähigen Gruppe, klassischerweise also eines „Staatsvolkes“. Im Gegensatz zur repräsentativen (Parteien-)Demokratie werden Stellvertreter der Gesamtheit nicht per Wahl, sondern per Auslosung bestimmt. Sofern aus allen (stimmberechtigten) Bürgern gelost wird, haben wir trotz des Stellvertreterprinzips eine direkte Demokratie, weil die Bürger selbst ohne Umweg über Berufspolitiker als ihre „Anwälte“ direkt selbst Entscheidungen treffen.

Es gibt drei große Einsatzgebiete für aleatorische Demokratie (zunächst ein Überblick, dann Details): Weiterlesen

Citizens Assembly: So viel Zustimmung macht skeptisch

Citizens‘ Assemblies sind derzeit in aller Munde. Die Idee, politische Entscheidungen durch ausgeloste Bürger vorbereiten oder sogar treffen zu lassen, anstatt von gewählten Abgeordneten, ist keineswegs neu – die wachsende Zustimmung zu diesem Verfahren aber doch. Und das muss einen misstrauisch machen.

Denn die wenigsten Menschen sind wirklich altruistisch im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, also: gemeinwohl- statt eigenwohlorientiert. Das wäre keine biologisch erfolgreiche Strategie, wie jeder Blick in die Evolutionsgeschichte zeigt. Weiterlesen

Jugendliche zur Demokratiereform beraten lassen

Wenn im Sommer 2019 tatsächlich in bundesweit etwa 16 Planungszellen per Los bestimmte Bürger über demokratische Reformen beraten (siehe Bericht), sollte die Chance genutzt werden, in zwei eigenständigen Gruppen ausschließliche Jugendliche zu Wort kommen zu lassen.
Denn selbst, wenn bei den Planungszellen Deutsche ab 16 Jahren berücksichtigt werden (Ziehung aus kommunalen Einwohnermelderegistern), bleibt eben ein großer Teil der jungen Generation stimmlos (zumal auch noch damit zu rechnen ist, dass die Politik eine Auslosung erst ab 18 Jahren haben möchte).
Rein sachlich dürfte unstrittig sein, dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene über Vorschläge zur Zukunftsgestaltung beraten sollten. Sie betrifft es am meisten (bzw. längsten), sie kommen in der Tagespolitik am wenigsten vor (und wenn, dann meist über „Anwälte“, z.B. erwachsene Jugendverbandsvertreter und hauptberufliche Pädagogen). Weiterlesen