Da mindestens jede zweite E-Mail zu diesem Blog danach fragt, wen man denn zum Thema Los-Demokratie/ aleatorische Deliberation / Citizens Jury / Planungszelle (vor allem im deutschsprachigen Raum) als Experten ansprechen könnte, hier einige Hinweise. Es handelt sich dabei um eine rein redaktionell erstellte Liste, auf die sich niemand selbst gesetzt hat. Es soll daher niemand für konkrete Ideen, insbesondere aus diesem Blog, vereinnahmt werden – die Positionen der einzelnen Akteure/ Autoren/ Forscher liegen oft weit auseinander.
Soweit in der Kürze sinnvoll möglich, wird auf Aktivitäten zur aleatorischen Demokratie verwiesen; sofern hinter dem Namen keine weiteren Angaben stehen, ergibt sich der Bezug aus Publikationen, die in unserer kleinen Auswahlliste bereits enthalten sind – und die zur weiteren Recherche empfohlen wird.
Bei einem Sternchen * hinter dem Namen gibt es am Ende dieser Seite ergänzende/ aktualisierte Hinweise, alphabetisch sortiert. Weitere Hinweise zum redaktionellen Vorgehen stehen ebenfalls am Ende des Beitrags.
1. Etablierte Bürgerbeteiligung per aleatorischer Deliberation
Das populärste, weil wirkmächtige Beispiel für die Beratung komplizierter Sachthemen durch ausgeloste Bürger ist die “Convention on the Constitution” in Irland bzw. die dazugehörige „Citizens Assembly“ (siehe Wikipedia). 99 ausgeloste Bürger hatten im Jahr 2016 über Fragen einer Verfassungsänderung beraten und dabei u.a. die Aufhebung des generellen Abtreibungsverbots vorgeschlagen. In einer nachfolgenden Volksabstimmung wurde diese Änderung angenommen .
Auch andernorts gab es schon Verfassungsänderungen nach aleatorischer Bürgerberatung. Immer wieder genannt wird etwa die Citizens‘ Assembly British Columbia (Kanada).
Neben solch einmaligen Bürgerbeteiligungen gibt es aber auch kontinuierliche aleatorische Verfahren. So beruft das österreichische Bundesland Vorarlberg regelmäßig per Los gebildete Bürgerräte ein (siehe Erläuterungen beim Büro für Zukunftsfragen).
Für fallbezogene aleatorische Bürgerbeteiligung sei auf die vielen Planungszellen/ Citizens Juries/ Bürgergutachten verwiesen.
–> Weitere Beispiele.
Ostbelgien hat inzwischen einen „Ständigen Bürgerdialog“, der auf Auslosung setzt. Ein Bürgerrat mit 24 Mitgliedern koordiniert gemeinsam mit der „Ständigen Sekretärin“ die Bürgerbeteiligung. Ein- bis dreimal im Jahr sollen dann Bürgerversammlungen sattfinden, für die jeweils 25 bis 50 Bürger per Los bestimmt werden (siehe Bericht Grenzecho).
2. Organisationen,
die aleatorische Verfahren fordern, fördern oder ihnen gegenüber offen sind
Deutschland überregional bzw. modellhaft
– Bürgerpolitik.org (gGmbH, Berlin, möchte BürgerArenen)
– Demokratie Innovation e.V. / „Es geht los“
– Demokratische Stimme der Jugend
– Es geht LOS (Demokratie Innovation e.V., Berlin)
– Extinction Rebellion
– Meeting Democracy (veranstalten „Übungs-Bürgerräte“)
– Mehr Demokratie e.V. (siehe Projekt Bürgerrat Demokratie 2019 und folgende)
– Netzwerk Bürgerräte (Mehr Demokratie e.V.)
– Qualitätsnetzwerk Bürgergutachten (ehemals „Planungszellen-Protagonisten“)
– Die Repräsentativen (Partei für die Auslosung von Parlamentsplätzen)
Lokale und regionale Gruppen in Deutschland
– Frankfurt am Main: Mehr als Wählen / Demokratie-Konvent (studentische Initiative)
– Freiburg: Allianz für werteorientierte Demokratie (AllWeDo) (ausgeloste Bürgerversammlung, Mitgliedschaft für ein Jahr)
Österreich
– Bürgerräte von unten (private Infoseite)
– IG Demokratie (Interessengemeinschaft, Verein; „Förderung partizipativer und konsultativer politischer Prozesse“; will gelosten EU-Verfassungskonvent)
Australien
– New Democracy Foundation
United Kingdom
– Involve
– Extinction Rebellion (gegen Klimawandel, internationalisiert sich). Zitat: „We do not however, trust our Government to make the bold, swift and long-term changes necessary to achieve this and we do not intend to hand further power to our politicians. Instead we demand a Citizens’ Assembly to oversee the changes, as we rise from the wreckage, creating a democracy fit for purpose.“
USA
– Jefferson Center (gegründet von Ned Crosby 1974)
– Sortition Foundation
– Bard Institute for the Revival of Democracy through Sortition. (Beschreibung von der Seite: The Bard Institute for the Revival of Democracy through Sortition is conceived as a critical platform to assemble the diverse research and resources that are emerging around deliberative democracy and sortition. We are a project of the Hannah Arendt Center at Bard College[…])
3. Ausgeloste Bürgerräte, Bürgerversammlungen, Konvente etc.
Für die regelmäßige Beratung politischer Themen durch ausgeloste Bürger – pro Beratung wechselnd oder auch mit einer längeren Amtsdauer – setzen sich viele der oben gelisteten Initiativen ein. Solche auf dem Zufallslos basierenden Bürgergruppen zur Beratung von Politik und Verwaltung gab es inzwischen an so vielen Orten, dass sich die ehemals hier wachsende Liste erübrigt hat, weil es zu unübersichtlich ist. Stattdessen wird im News-Bereich von Aleatorische-Demokratie.de auf besonders relevante Einsätze hingewiesen.
Eine grafische Übersicht gibt es gleichwohl (unvollständig, von Freiwilligen eingetragen) bei Open-Street-Map. Viele Einzelprojekte sind gelistet in den Unterrubriken „bundesweit“, „in den Ländern“, „lokal“ etc. bei Bürgerrat.de.
4. Bedeutende Befürworter demokratischer Losverfahren
(zumeist befürworten sie den Einsatz aleatorischer Demokratie in deutlich schwächerer Ausprägung als Timo Rieg, Herausgeber dieses Blogs, in seinem Buch), aus dem deutschsprachigen Raum:
Bender, Prof. Christiane (HH)
Buchstein, Prof. Hubertus (Uni Greifswald, Autor des Standardwerks „Demokratie und Lotterie“)
van Deth, Prof. Jan (Mannheim, u.a. Demokratie-Monitor)
Geißel, Prof. Brigitte (Uni Frankfurt; evaluierte Bürgerräte)
Graßl, Prof. Hans (Siegen),
Hein, Dr. Michael (Göttingen)
Leggewie, Prof. Claus (Essen)
Lietzmann, Prof. Hans-J. (Wuppertal, ehem. Leiter IDPF, Nachfolger von Peter Dienel)
Nanz, Prof. Patrizia (Potsdam)
5. Wissenschaftler, Politiker, Publizisten u.a., die sich in anderen Ländern/ Sprachen konkret für demokratische Losverfahren ausgesprochen haben. Siehe hierzu auch die Literaturauswahl.
Guerero, Prof. Alexander (USA)
Burnheim, Prof. em. John (Sydney)
Frey, Prof. Bruno (Schweiz)
Pache, Charly (Schweiz, Volksinitiative)
Van Parijs, Prof. em. Philippe
Royal, Ségolène (Frankreich, Jury citoyen)
Van Reybrouck, David (Belgien)
Stojanovic, Dr. Nenad (Genf)
6. Mitglieder des „Qualitätsnetzwerks Bürgergutachten“
(ehemals „Planungszellen-Protagonisten“,
entstanden nach dem Tod von Peter Dienel 2006)
Dienel, Prof. Hans-Liudger (Berlin, FU + Nexus Institut)
Rieg, Timo (Jugendplanungszellen)
Sturm, Prof. Hilmar (München)
Vergne, Dr. Antoine (Paris / Berlin)
7. Weitere Links
Aus der Fülle guter Informationsportale zu Bürgerbeteiligung und Demokratieentwicklung, bei der immer auch irgendwo Aleatorik eine Rolle spielen kann, verweisen wir nachfolgend noch auf einige besonders ergiebige Quellen.
Adressen von Akteuren (interessant vor allem die Rubrik „Weitere nützliche Adressen“)
Participedia – ein Methoden-Wiki
Partizipendium – ein Bürgerbeteiligungs-Blog (viele aktuelle News + Nachschlagewerk)
Partizipation und nachhaltige Entwicklung in Europa (Bundesministerium, Österreich)
Da sich in einem Blog so vieles ansammelt, hier nochmal der Verweis auf die Haupteinträge, welche mit dem Stichwort „Netzwerk“ vernetzt sein könnten:
a) Beispiele für Planungszellen / Citizens Juries / Citizens‘ Assembly / Bürgergutachten
b) aktive Initiativen
c) Medienspiegel
d) Veranstaltungen (Termine)
8. Andere Gruppen
(mit denen wir im Austausch stehen)
Dynamic Facilitation (Verein, München; u.a. Bürgerräte/ Wisdom Councils. Das Verfahren „Dynamic Facilitation“ wird u.a. in Vorarlberg bei Bürgerräten eingesetzt)
Kommunikative Demokratie (Verein, Berlin)
Procedere (Entwicklungs- und Vermittlungsverbund für prozedurale Praxis in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft)
Redesign Democracy
9. Auslosung außerhalb aleatorischer Demokratie
Finanzielle Förderung. Ferric Fang und Arturo Casadevall haben eine Lotterie für Wissenschaftsprojekte vorgeschlagen. Nach einer grundsätzlichen Eignungsprüfung sollte das Los entscheiden, was tatsächlich gefördert wird: Research Funding: the Case for a Modified Lottery, in: mBio (hrsg. von der American Society for Microbiology), 7. Jg, H 2 (März/April 2016)
https://journals.asm.org/doi/pdf/10.1128/mBio.00422-16
March/April 2016 Volume 7 Issue 2 e00422-16
10. Weitere Anwendungsbeispiele der Bürgerbeteiligung per Los
Edingen-Neckarhausen (PLZ 68535, Baden-Württemberg)
Ein Teilnehmer berichtete dazu auf der Ask-us-Liste:
Meine Gemeinde ist eine von mehreren Gemeinden im Main-Neckar-Raum (in Baden-Württemberg, Deutschland), die eine Zukunftswerkstatt zur Entwicklung der Gemeinde durchführen (Leitbild für die Zeit bis 2030). Alle Bürger der Gemeinde wurden angeschrieben und in einem Fragebogen um Vorschläge gebeten. Unter allen, die den Fragebogen beantwortet haben, wurden zufällig einige ausgewählt, darunter auch ich, und eingeladen, an einem der Arbeitskreise teilzunehmen. So wurden ich und einige andere, die sonst nie politisch aktiv sind, mal eingebunden. So wie ich dachten auch viele andere Teilnehmer „wenn die Gemeinde mich schon extra anschreibt, sollte ich wohl mal mitmachen“) Wir haben viele Vorschläge diskutiert. Leider wurden meine weitgehend als unrealistisch eingestuft (neuer Bahnhof, …) andererseits habe ich auch Ideen von anderen abgelehnt (Förderung von Elektromobilität -> halte ich nicht für zielführend, weil die Produktion und Entsorgung der Batterien die Umwelt sehr stark belastet). Neben uns Bürgern sind Gemeinderatsmitglieder mit dabei, die angehalten wurden sich zurückzuhalten, aber de facto oft erzählen, was schon gemacht wurde, für demnächst geplant ist oder abgelehnt und warum. Ich war sehr positiv überrascht, wie viele gute Angebote die Gemeinde hat, von denen ich nie was wusste.
Natürlich ist die Teilnahme freiwillig. Es sind zwar im Lauf der Zeit einige der Bürger weggeblieben, v.a. solche, die sich schwer tun mit Diskussionen (z.B. weil sie nicht so gut Deutsch können oder älter sind und schwer hören oder halt doch wenig Interesse am Thema haben), dennoch haben wir viele konstruktive Vorschläge erarbeitet, die nun im Gemeinderat diskutiert werden.
Weitere Links zur aleatorischen Demokratie
– BürgerInnengutachtenpartei (BGP)
Organisatorische Hinweise
– Von Institutionen/ Lehrstühlen / Firmen etc. haben wir i.d.R. nur einen Protagonisten benannt. Für viele Anfragen sind sicherlich andere Mitarbeiter mindestens so empfehlenswerte Ansprechpartner.
– Akademische Grade sind nicht vollständig ausgewiesen. Die Bezeichnung „Prof.“ soll vor allem auf die universitäre Anbindung deuten. Doktorgrade sind i.d.R. nicht benannt (Ausnahme: Dissertation befasst sich explizit mit aleatorischer Demokratie)
– Wer sich explizit gegen seine Nennung hier ausgesprochen hat, wird nicht aufgeführt (aber ggf. natürlich im Literaturverzeichnis und in Blogbeiträgen). Ebenso nehmen wird diejenigen nicht auf, die mehrfach auf Anfragen von uns nicht reagiert haben, also zumindest diesen kleinen Knoten im Netzwerk nicht nutzen wollen und für Anfragen offenbar nicht zur Verfügung stehen.
Ergänzende Hinweise (zu mit * gekennzeichneten Einträgen):
derzeit keine