Aleatorische Demokratie

Ist unsere Demokratie ein Privileg, für das wir dankbar sein müssen?

Episode 21 des Podcasts ?Macht:Los!

Die „Gesprächspartner“ in dieser Folge kommen mit dem zu Wort, was sie in ihren eigenen Podcasts zur Demokratie gesagt haben. Es sind David Ahlf und Anne-Katrin Eutin von „Studio komplex“ (hr/ ARD), Andrew Sola von „The Trans-Atlanticist“ und Ariana Barborie und Till Reiners von „Endlich normale Leute“. Es geht u.a. um den Unterschied von Gruppen- und Ämterauslosungen, dem Privileg des demokratischen Abstimmens und das Paradebeispiel für gescheiterte Volksabstimmungen: den Brexit. ?Macht:Los!-Host Timo Rieg sieht da einiges anderes.

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Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Mehr oder weniger durch Zufalll ist das gesamte System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks derzeit in die Diskussion geraten. Ausgehend von Vorwürfen des laxen Umgangs mit dem zur Verfügung gestellten Geld beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), verknüpft mit dem Namen der damals noch Intendantin Patricia Schlesinger, wird bei vielen Sendern Kritik öffentlich, insbesondere derzeit beim Norddeutschen Rundfunk (NDR), bei dem es in einzelnen Häusern oder Redaktionen Vetternwirtschaft, politische Einflussnahme und „ein Klima der Angst“ gegeben haben soll. Die öffentliche Aufregung kommt für manchen Kenner der Branche sicherlich etwas plötzlich und heftig – schließlich ist mit dem, was jetzt enthüllt wird, überall zu rechnen, so wie das Finanzamt sinnvollerweise jedem Steuerpflichtigen erstmal Steuerhinterziehung zutraut und nicht allzu verwundert ist, wenn es sie tatsächlich irgendwo entdeckt. Weiterlesen

Beispiele für Bürgerräte

Bürgerräte als aleatorisches Beteiligungsformat erfreuen sich gerade großer Beliebtheit – sowohl bei Aktivisten als auch bei Politik und z.T. Verwaltung.

Bundesweite Bürgerräte in Deutschland: 
2019 Bürgerrat Demokratie (Sehr eindrücklich dazu der Dokumentarfilm von Sandra Budesheim und Sabine Zimmer: Bürger. Macht. – Mehr direkte Demokratie?)
2021 Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt (6-Minuten Video)
2021 Bürgerrat Klima

Landesweite Bürgerräte in Deutschland:

2021 zu „Corona“, Covid-19 bzw. der Pandemiepolitik:
Baden-Württemberg: Bürgerforum Corona
Thüringen: Bürgerforum Corona
Sachsen: Forum Corona

Bürgerrat, Bürgerparlament und andere Begriffe aleatorischer Demokratie

Auf Auslosung beruhende Bürgerbeteiligung erfreut sich gerade stark wachsender Beliebtheit. Die verschiedenen Formen sollen hier (bzw. in den verlinkten ausführlicheren Beiträgen) erläutert werden. Diskussionen sind sehr willkommen. Die Stichworte:

1. Aleatorische Demokratie / Sortition
2. Bürgerrat (drei Methoden: nach Peter Dienel, Modell Irland, Modell Vorarlberg)  Vorarlberger Modell)
3. Bürgerparlament (citizen legislature)
4. Bürgerversammlung Weiterlesen

Sortition

Zum Begriff der „Aleatorischen Demokratie“ / „Zufallsdemokratie“

Menschen für politische Aufgaben nicht zu wählen, sondern per Zufallslos zu bestimmen, ist eine alte demokratische Praxis, die historisch vor allem mit der Athener Polis verbunden ist (ausführlich: Hansen 1995). Während das Los stets völlig zufällig entscheidet, ist die Festlegung der sogenannten Grundgesamtheit, aus der gelost wird, ein normativer und nicht selten willkürlicher Akt: Nur wer zur Auslosung zugelassen wird, hat die Chance (oder auch das Risiko) ausgelost zu werden. So kann die Grundgesamtheit z. B. die gesamte Bevölkerung eines Stadtteils umfassen, alle Staatsbürger, die Angehörigen einer Universität oder die wahlberechtigte Bevölkerung in einem Landkreis.

Die Auslosung von Bürgern für ein Beratungs- oder Entscheidungsverfahren kommt immer dann in Betracht, wenn bewusst eine zufällige Stichprobe aus der definierten Grundgesamtheit gezogen werden soll. Es gibt dann also weder eine Selbstermächtigung Interessierter (wie bei Bürgerinitiativen, offenen Bürgerforen, Unterschriftensammlungen etc.) noch Delegationsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen (wie bei Runden Tischen, in Rundfunk- und Medienräten etc.). Da der Zufall entscheiden soll, welche Personen für die Bürgerbeteiligung bestimmt werden, muss egal sein, auf wen das Los fällt. Auslosungen sind daher in höchstem Maße egalitär: Jeder Mensch, der zur sogenannten Grundgesamtheit derer gehört, aus denen gelost wird, hat die gleiche Chance auf Beteiligung. Es gibt kein Ranking, keine Prüfung, keine Wahl, keine Lobby.

Deshalb sind zwei verschieden Anwendungen des Zufalls zu unterscheiden:
a) Im Standardfall, auf den wir uns hier konzentrieren, wäre eigentlich die gesamte (wahlberechtigte) Bevölkerung einer bestimmten Region (oder eine Teilgruppe davon) zu befragen bzw. an einer Entscheidung zu beteiligen. Da dies nicht praktikabel ist, wenn man mehr möchte als bereits vorhandene Meinungen abzufragen, werden per Los Menschen gewonnen, die stellvertretend für ihre Grundgesamtheit beraten. Damit eine solche Losgruppe einigermaßen realistisch die Vielfalt und Gewichtung der Gesellschaft widerspiegelt, muss sie eine Mindestgröße haben, die u. a. abhängig ist von der Größe der Grundgesamtheit und dem Anspruch an die Reliabilität der Ergebnisse. Zudem muss die Losgruppe robust gegenüber Störungen sein, denn der Zufall ermöglicht ja auch „anstrengenden Zeitgenossen“ eine Teilnahme. Die Erfahrungen sprechen für eine absolute Untergrenze von 25 Ausgelosten (siehe unten Stichwort „Realistische Stichprobe“).
Die Vorteile von Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl gegenüber solchen mit Beteiligung aus eigenem Engagement heraus liegen auf der Hand: zu Wort kommt nicht, wer fähig oder geübt darin ist, das Wort zu ergreifen, sondern es werden vielfältige Sichtweisen eingetragen.
Die Kombination von zufallsausgewählten Bürgerräten mit gewählten Abgeordneten hat in Irland ermöglicht, ethische Fragen, die jahrzehntelang von der parlamentarischen Demokratie vertagt wurden (Scheidung, Homoehe, Abtreibung), zu entscheiden. Auch in Ostbelgien haben rechtlich verbindlich eingeführte Bürgerräte mit zufällig ausgewählten Bürgern, grundlegende Entscheidungen ermöglicht; – in Deutschland werden gerade Bürgerräte getestet.

b) Eine andere interessante Anwendungsmöglichkeit ist die Auslosung einzelner Ämter, z. B. einer ehrenamtlichen Schiedsperson in der Kommune (Schlichter). In solchen Anwendungsfällen muss anders als bei der Stichprobe sichergestellt werden, dass die Gemeinschaft mit jeder Losentscheidung ähnlich gut leben kann.
Im Feld der Bürgerbeteiligung gibt es solche Einzelauslosungen vor allem, wenn Bürger nur beratend oder gar nur beobachtend an vorhandenen bzw. von der Politik installierten Gremien teilhaben sollen. Kennzeichnend ist, dass die zur Auslosung anstehenden Bürger bestimmte Gemeinsamkeiten haben, die sie genau für dieses Beteiligungsverfahren qualifizieren: sie sind z. B. von einer geplanten Baumaßnahme betroffen, sie sind alleinerziehend oder sie haben sich für das Verfahren beworben und bringen so ein gerade nicht zufälliges Engagement ein.

Siehe hierzu ausführlich:
a) Repräsentative Bürgervoten dank Teilnehmer-Auslosung (pdf)
b) Was ist aleatorische Demokratie? (Mit kurzem Absatz zur Auslosung von Sachentscheidungen)

Podcast „?macht:los!“

Die Podcast-Reihe „?Macht:Los!“ diskutiert notwendige Demokratiereformen – mit besonderem Interesse an aleatorischer Demokratie, also der Auslosung statt Wahl von Volksvertretern. Den Podcast gibt es auf allen gängigen Plattformen, Links zu den einzelnen Episoden unten:

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Schöffen sind kein Beispiel für aleatorische Demokratie

Wenn Beispiele heutiger Praxis aleatorischer Demokratie benannt werden, kommen immer wieder die Gerichtsschöffen ins Spiel. Schöffen sind juristische Laien, die als Vertreter der Bevölkerung in vielen Gerichtsverfahren mitwirken – und dann stets bei der Abstimmung gleichberechtigt mit dem oder den Berufsrichtern. Beim Amtsgericht kommen zwei Schöffen zu einem Berufsrichter, ebenso bei der kleinen Strafkammer der Landgerichte. Die großen Strafkammern und Schwurgerichte der Landgerichte werden aus je drei Berufsrichtern und zwei Schöffen gebildet (Gerichtsverfassungsgesetz GVG § 76 u.a.).
Die Schöffen werden in Deutschland jedoch nicht ausgelost, wie immer wieder angenommen wird, sondern von den Gemeinden benannt (§ 36 GVG). Regelmäßig rufen die Amtsgerichte daher zur Bewerbung für dieses fünfjährige Ehrenamt auf. Zu Beginn ihrer Amtszeit sollen Schöffen zwischen 25 und 69 Jahre alt sein, und es gibt weitere Einschränkungen. Weiterlesen