Zum Begriff der „Aleatorischen Demokratie“ / „Zufallsdemokratie“
Menschen für politische Aufgaben nicht zu wählen, sondern per Zufallslos zu bestimmen, ist eine alte demokratische Praxis, die historisch vor allem mit der Athener Polis verbunden ist (ausführlich: Hansen 1995). Während das Los stets völlig zufällig entscheidet, ist die Festlegung der sogenannten Grundgesamtheit, aus der gelost wird, ein normativer und nicht selten willkürlicher Akt: Nur wer zur Auslosung zugelassen wird, hat die Chance (oder auch das Risiko) ausgelost zu werden. So kann die Grundgesamtheit z. B. die gesamte Bevölkerung eines Stadtteils umfassen, alle Staatsbürger, die Angehörigen einer Universität oder die wahlberechtigte Bevölkerung in einem Landkreis.
Die Auslosung von Bürgern für ein Beratungs- oder Entscheidungsverfahren kommt immer dann in Betracht, wenn bewusst eine zufällige Stichprobe aus der definierten Grundgesamtheit gezogen werden soll. Es gibt dann also weder eine Selbstermächtigung Interessierter (wie bei Bürgerinitiativen, offenen Bürgerforen, Unterschriftensammlungen etc.) noch Delegationsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen (wie bei Runden Tischen, in Rundfunk- und Medienräten etc.). Da der Zufall entscheiden soll, welche Personen für die Bürgerbeteiligung bestimmt werden, muss egal sein, auf wen das Los fällt. Auslosungen sind daher in höchstem Maße egalitär: Jeder Mensch, der zur sogenannten Grundgesamtheit derer gehört, aus denen gelost wird, hat die gleiche Chance auf Beteiligung. Es gibt kein Ranking, keine Prüfung, keine Wahl, keine Lobby.
Deshalb sind zwei verschieden Anwendungen des Zufalls zu unterscheiden:
a) Im Standardfall, auf den wir uns hier konzentrieren, wäre eigentlich die gesamte (wahlberechtigte) Bevölkerung einer bestimmten Region (oder eine Teilgruppe davon) zu befragen bzw. an einer Entscheidung zu beteiligen. Da dies nicht praktikabel ist, wenn man mehr möchte als bereits vorhandene Meinungen abzufragen, werden per Los Menschen gewonnen, die stellvertretend für ihre Grundgesamtheit beraten. Damit eine solche Losgruppe einigermaßen realistisch die Vielfalt und Gewichtung der Gesellschaft widerspiegelt, muss sie eine Mindestgröße haben, die u. a. abhängig ist von der Größe der Grundgesamtheit und dem Anspruch an die Reliabilität der Ergebnisse. Zudem muss die Losgruppe robust gegenüber Störungen sein, denn der Zufall ermöglicht ja auch „anstrengenden Zeitgenossen“ eine Teilnahme. Die Erfahrungen sprechen für eine absolute Untergrenze von 25 Ausgelosten (siehe unten Stichwort „Realistische Stichprobe“).
Die Vorteile von Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl gegenüber solchen mit Beteiligung aus eigenem Engagement heraus liegen auf der Hand: zu Wort kommt nicht, wer fähig oder geübt darin ist, das Wort zu ergreifen, sondern es werden vielfältige Sichtweisen eingetragen.
Die Kombination von zufallsausgewählten Bürgerräten mit gewählten Abgeordneten hat in Irland ermöglicht, ethische Fragen, die jahrzehntelang von der parlamentarischen Demokratie vertagt wurden (Scheidung, Homoehe, Abtreibung), zu entscheiden. Auch in Ostbelgien haben rechtlich verbindlich eingeführte Bürgerräte mit zufällig ausgewählten Bürgern, grundlegende Entscheidungen ermöglicht; – in Deutschland werden gerade Bürgerräte getestet.
b) Eine andere interessante Anwendungsmöglichkeit ist die Auslosung einzelner Ämter, z. B. einer ehrenamtlichen Schiedsperson in der Kommune (Schlichter). In solchen Anwendungsfällen muss anders als bei der Stichprobe sichergestellt werden, dass die Gemeinschaft mit jeder Losentscheidung ähnlich gut leben kann.
Im Feld der Bürgerbeteiligung gibt es solche Einzelauslosungen vor allem, wenn Bürger nur beratend oder gar nur beobachtend an vorhandenen bzw. von der Politik installierten Gremien teilhaben sollen. Kennzeichnend ist, dass die zur Auslosung anstehenden Bürger bestimmte Gemeinsamkeiten haben, die sie genau für dieses Beteiligungsverfahren qualifizieren: sie sind z. B. von einer geplanten Baumaßnahme betroffen, sie sind alleinerziehend oder sie haben sich für das Verfahren beworben und bringen so ein gerade nicht zufälliges Engagement ein.
Siehe hierzu ausführlich:
a) Repräsentative Bürgervoten dank Teilnehmer-Auslosung (pdf)
b) Was ist aleatorische Demokratie? (Mit kurzem Absatz zur Auslosung von Sachentscheidungen)