Aleatorische Demokratie

Bürgerrat, Bürgerparlament und andere Begriffe aleatorischer Demokratie

Auf Auslosung beruhende Bürgerbeteiligung erfreut sich gerade stark wachsender Beliebtheit. Die verschiedenen Formen sollen hier (bzw. in den verlinkten ausführlicheren Beiträgen) erläutert werden. Diskussionen sind sehr willkommen. Die Stichworte:

1. Aleatorische Demokratie / Sortition
2. Bürgerrat (drei Methoden: nach Peter Dienel, Modell Irland, Modell Vorarlberg)  Vorarlberger Modell)
3. Bürgerparlament (citizen legislature)
4. Bürgerversammlung

1. Aleatorische Demokratie/ Sortition / Zufallsdemokratie

Aleatorische Demokratie arbeitet mit Auslosungen statt Wahlen und Abstimmungen. Dabei kann sich die Auslosung auf die Mitglieder eines großen Entscheidungsgremiums beziehen (wie ein Parlament), auf die Auslosung einzelner Personen für ein Amt aus einer Gruppe geeigneter Kandidaten oder auch auf die Auslosung einer Entscheidungen unter mehreren sinnvoll möglichen.
Solange das Los nur für unverbindliche Empfehlungen eingesetzt wird (wie bisher bei Bürgerräten), sollte besser von aleatorischer Deliberation gesprochen werden, auch wenn beratende Bürgerbeteiligung natürlich ein Baustein der (parlamentarisch-repräsentativen) Demokratie ist.

2. Bürgerrat

Unter einem “Bürgerrat” (in beliebig gegenderter Form: BürgerInnenrat, Bürger*rat, Einwohnendenrat…) verstehen wir ein die Politik beratendes, per Los aus allen (wahlberechtigten) Einwohnern des relevanten Gebietes zusammengesetztes Gremium. Im Sinne aleatorischer Demokratie sollte das Mandat auf sehr kurze Dauer beschränkt sein (z.B. ein Wochenende, einen Samstag oder vier Abendsitzungen im Abstand von einigen Wochen). Aber auch Amtszeiten von mehreren Jahren gibt es.
Wichtigstes Kriterium ist die Auslosung aus der Gesamtbevölkerung bzw. dem stimmberechtigten Teil (dieser Unterschied ist eine eigene Diskussion, für den Moment soll genügen: beides gibt es und beides kann gut begründet werden).
Daher sind Beratungsgremien, die sich aus Lobbyisten zusammensetzen oder die von Politik und Verwaltung berufen werden, keine “Bürgerräte”. Natürlich sind ihre Mitglieder Bürger – aber das sind auch die Lokalpolitiker schon. Die Benennung eines Gremiums als “Bürger-*” verlangt im Zusammenhang mit aleatorischer Demokratie, dass dieser Rat statistisch repräsentativ für die Bürgerschaft steht. Und das ist grundsätzlich nur mit Auslosungen zu gewährleisten.

In der Schweiz heißt das Pendant zum deutschen Gemeinderat oder Stadtrat: Bürgergemeinderat, kürzer Bürgerrat.
Siehe dazu beispielhaft:
“Der Bürgerrat der Gemeinde Solothurn wurde in einer stillen Wahl gewählt”
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/der-buergerrat-ist-still-gewaehlt-131204901

Aus der derzeitigen Praxis sind drei Bürgerrats-Modelle zu unterscheiden, die sich methodisch deutlich unterscheiden. Eine verlässliche Evaluation zu den Unterschieden im Ergebnis steht noch aus, weil bisher nirgends zwei oder alle drei Verfahren parallel zur selben Fragestellung durchgeführt wurden:

a) Bürgerrat nach Peter Dienel (“Bürgerrat PD”, ursprünglich Planungszelle)
Entgegen der üblichen öffentlichen Darstellung ist das Beteiligungsformat Bürgerrat nicht erst nach dem Erfolg in Irland (siehe nächster Punkt) nach Deutschland importiert worden. Denn ein ähnliches Verfahren hatte Prof. Peter Dienel zu Beginn der 1970er Jahre entwickelt; es ist seitdem hundertfach eingesetzt worden, auch außerhalb Deutschlands. Allerdings hieß das Verfahren bei Peter Dienel nie Bürgerrat, sondern Planungszelle, das Ergebnis nennt sich Bürgergutachten. Orthodoxe Dienel Jünger werden sich gegen den Begriff “Bürgerrat nach Peter Dienel” (“Bürgerrat PD”) verwehren. Da aber auch die übrigen Bürgerratsmodelle große methodische Unterschiede aufweisen stiftet es mehr Verwirrung als Klarheit, Dienels Ansatz nur mit dem sperrigen Namen “Planungszelle” zu verbinden und damit quasi aus dem Rennen zu nehmen. Denn “Bürgerrat” ist derzeit der gesetzte Begriff für aleatorische Deliberation. Die wichtigsten Merkmale des “Bürgerrats PD”:
* Der Ablauf ist stark standardisiert und ausführlich beschrieben.
* Verfahrensdauer normalerweise vier aufeinander folgende Tage, gegliedert in Bratungseinheiten zu je 90 Minuten.
* Beratung nur in ausgelosten Kleingruppen, ohne Moderation, ohne Öffentlichkeit.
* Klare Fragestellung für jede Beratungseinheit.
* Die ausgelosten Bürger sollen keine eigenen Ideen ersinnen, sondern aus vorgegebenen Lösungsvorschlägen den besten aussuchen (oder alle als ungeeignet verwerfen).
* Dem Input von Sachkompetenz und Positionen durch Experten/ Lobbyisten kommt große Bedeutung zu.
* Parallel und voneinander unabhängig beratende Gruppen sichern die Validität der Ergebnisse.
Siehe ausführlich unter Planungszelle.

b) Bürgerrat nach irischem Modell (“Bürgerrat MI”)
In Deutschland gibt es bisher nur ein Beispiel für einen Bürgerrat nach irischem Vorbild (“Modell Irland”, bei uns daher kurz “Bürgerrat MI”), das dafür umso bekannter und wirkmächtiger ist: der “Bürgerrat Demokratie“. Für diesen wurden 160 Bürger aus ganz Deutschland nach einer geschichteten Stichprobe ausgelost, um an vier Tagen über die Weiterentwicklung der Demokratie zu beraten. Initiatoren waren der Verein “Mehr Demokratie” und die Schöpflin-Stifgung (siehe ausführlich: Bürgerrat Demokratie).
Wie viele andere waren die Initiatoren begeistert von der ersten Citizens’ Assembly in Irland (Originaltitel: An Tionól Saoránach), für die 99 Bürger im Jahr 2016 mehr oder weniger zufällig bestimmt wurden, um über eine Reihe von Verfassungsfragen zu beraten. Mediale Aufmerksamkeit bekam vor allem die Bürgerrats-Empfehlung zur Änderung des Abtreibungsrechts, die später in einem Referendum (Volksentscheid) angenommen wurden.

Kennzeichen eines Bürgerrats nach irischem Vorbild (Bürgerrat MI) sind:
* Inputs zu jeder Beratungseinheit von Fachleuten und Lobbyisten im Plenum, mit Möglichkeit für Rückfragen der Bürgerräte
* Beratung in kleineren Tischgruppen mit einer Moderation (und Assistenz)
* Öffentlichkeit wenigstens bei Teilen des Verfahrens (Presse und andere Beobachter können anwesend sein, Tischgruppen diskutieren nicht im Séparée)
* Abstimmung der Empfehlungen im Plenum
* Leitung des Bürgerrats durch einen (nicht stimmberechtigten) Vorsitzenden (in Irland: Richter), der von den Initiatoren eingesetzt wird.

Vor allem das Beratungsverfahren untescheidet sich damit von dem ähnlichen und älteren Modell der “Planungszelle” bzw. “Citizens’ Jury”.

Siehe hierzu ausführlich:
a) The Convention on the Constitution/ Constitutional Convention (Ireland),
b) 1. Citizens’ Assembly (Irland)
c) Bürgerräte nach irischem Modell

c) Bürgerrat nach Vorarlberger Modell (“Bürgerrat MV”)
Im österreichischen Bundesland Vorarlberg sind Bürgerräte seit 2013 ein demokratisches Instrument der Landesverfassung. Davor hatte das “Büro für Zukunftsfragen” seit dem Jahr 2006 bereits etwa 40 Bürgerräte veranstaltet. Auch hier werden die Teilnehmer per Los bestimmt, allerdings besteht ein Bürgerrat nach Vorarlberger Modell (bzw. nach dem US-Vorbild “Wisdom Council”, siehe ausführlich hier) nur aus 12 bis 15 Personen. Weitere Kennzeichen bzw. Unterschiede sind:

* Beratungsdauer zwei oder anderthalb Tage
* Moderation nach der speziellen Methode “Dynamic Facilitation”
* (normalerweise) kein Experten-Input
* Beratung nur in der Gesamtgruppe, stets über die Moderation.

Aufgrund dieser Unterschiede setzt ein Bürgerrat nach Vorarlberger Modell (“Bürgerrat MV”) nicht darauf, repräsentative Ergebnisse zu erarbeiten, sondern Politik und Verwaltung einen Impuls von “normalen Bürgern” zu geben.
Ein Beispiel für dieses Verfahren in Deutschland sind die Bürgerräte im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg.

3. Bürgerparlament

Ein “Bürgerparlament” ist die Idee, das bisherige gesetzgebende Gremium aus ehrenamtlichen oder beruflichen Politikern durch ausgeloste Bürger zu ersetzen oder diesem – für bestimmte Fragen – eine entsprechende Kammer zur Seite zu stellen.
Die Idee “Bürgerparlament” wird in der englischen Literatur schon längere Zeit diskutiert, aus der deutschsprachigen Literatur ist hierzu vor allem das Buch “Demokratie für Deutschland” aus dem Jahr 2013 zu nennen.
Die Arbeitsweise kann sich an einem Bürgerrat nach irischem Modell oder am Konzept der Planungszellen orientieren, einige Autoren schlagen allerdings auch Amtszeiten vor, die denen der bisherigen Parlamente entsprechen.
Der Begriff “Bürgerparlament” sollte nur für Gremien verwendet werden, die tatsächlich Entscheidungen zu treffen haben, wobei die gewöhnliche Trennung in Legislative und Exekutive unterbleiben kann, da die Macht unmittelbar aus der Wahlbevölkerung hervorgeht, aus der die Stellvertreter eines Bürgerparlaments gelost werden.
Siehe zur Diskussion um die Begriffsverwendung auch einen kritischen Kommentar von Ardalan Ibrahim, Mitinitiator des “Münchner Bürgerparlaments”.

4. Bürgerversammlung

Der Begriff “Bürgerversammlung” wird schon lange für alle offen-einladenden Formate der Konsultation benutzt. Zu Versammlungen sind alle eingeladen – bei Bürgerversammlungen eben alle Bürger, bei Mitgliederversammlungen alle Mitglieder, bei der Bundesversammlung alle Bundestagsabgeordneten und die Delegierten der Länderparlamente. Es stiftet daher Verwirrung, wenn im Kontext aleatorischer Deliberation von Bürgerversammlungen die Rede ist.

 

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