Aleatorische Demokratie

Berufspolitiker oder Bürgerparlament? Neue Podcast-Folge

In der 10. Ausgabe von ?Macht:Los! diskutieren der Grüne-Politiker Peter Heilrath (Foto links: Hagen Schnauss, CC BY 4.0), der Soziologe Robert Jende und der Biologe Timo Rieg, ob Berufspolitiker bessere Politik machen als “normale” Bürger, die für diesen Job kurzzeitig ausgelost werden. Heilrath, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Außenpolitik der Grünen in Bayern, meint, dass gewählte Abgeordnete rationalere Entscheidungen treffen als es Kurzzeit-Bürgerparlamentarier täten. Aber er sieht durchaus Probleme im heutigen Parlamentsbetrieb. Und am Ende besteht wenigstens diese Einigkeit: Probieren könnte man es ja mal – solange ein ausgelostes “Bürgerparlament” noch nicht wirklich entscheiden darf, sondern quasi im Testlauf arbeitet und zeigt, was es zu leisten vermag.


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Ausgeloste Bürgerräte überall

Ab dem kommenden Wochenende (24. Januar 2020) arbeiten vier nationale Bürgerräte zeitlich parallel. In Frankreich, Großbritannien, Irland und Schottland beraten per Zufallslos bestimmte Bürger über Handlungsempfehlungen an die Politik. Die Bürgerversammlungen in Frankreich und Schottland tagen dabei schon seit Oktober, die Bürgerräte in Großbritannien und Irland hingegen nehmen am Freitag und Samstag erstmals ihre Beratungen auf. Weiterlesen

Sortition

Zum Begriff der “Aleatorischen Demokratie” / “Zufallsdemokratie”

Menschen für politische Aufgaben nicht zu wählen, sondern per Zufallslos zu bestimmen, ist eine alte demokratische Praxis, die historisch vor allem mit der Athener Polis verbunden ist (ausführlich: Hansen 1995). Während das Los stets völlig zufällig entscheidet, ist die Festlegung der sogenannten Grundgesamtheit, aus der gelost wird, ein normativer und nicht selten willkürlicher Akt: Nur wer zur Auslosung zugelassen wird, hat die Chance (oder auch das Risiko) ausgelost zu werden. So kann die Grundgesamtheit z. B. die gesamte Bevölkerung eines Stadtteils umfassen, alle Staatsbürger, die Angehörigen einer Universität oder die wahlberechtigte Bevölkerung in einem Landkreis.

Die Auslosung von Bürgern für ein Beratungs- oder Entscheidungsverfahren kommt immer dann in Betracht, wenn bewusst eine zufällige Stichprobe aus der definierten Grundgesamtheit gezogen werden soll. Es gibt dann also weder eine Selbstermächtigung Interessierter (wie bei Bürgerinitiativen, offenen Bürgerforen, Unterschriftensammlungen etc.) noch Delegationsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen (wie bei Runden Tischen, in Rundfunk- und Medienräten etc.). Da der Zufall entscheiden soll, welche Personen für die Bürgerbeteiligung bestimmt werden, muss egal sein, auf wen das Los fällt. Auslosungen sind daher in höchstem Maße egalitär: Jeder Mensch, der zur sogenannten Grundgesamtheit derer gehört, aus denen gelost wird, hat die gleiche Chance auf Beteiligung. Es gibt kein Ranking, keine Prüfung, keine Wahl, keine Lobby.

Deshalb sind zwei verschieden Anwendungen des Zufalls zu unterscheiden:
a) Im Standardfall, auf den wir uns hier konzentrieren, wäre eigentlich die gesamte (wahlberechtigte) Bevölkerung einer bestimmten Region (oder eine Teilgruppe davon) zu befragen bzw. an einer Entscheidung zu beteiligen. Da dies nicht praktikabel ist, wenn man mehr möchte als bereits vorhandene Meinungen abzufragen, werden per Los Menschen gewonnen, die stellvertretend für ihre Grundgesamtheit beraten. Damit eine solche Losgruppe einigermaßen realistisch die Vielfalt und Gewichtung der Gesellschaft widerspiegelt, muss sie eine Mindestgröße haben, die u. a. abhängig ist von der Größe der Grundgesamtheit und dem Anspruch an die Reliabilität der Ergebnisse. Zudem muss die Losgruppe robust gegenüber Störungen sein, denn der Zufall ermöglicht ja auch “anstrengenden Zeitgenossen” eine Teilnahme. Die Erfahrungen sprechen für eine absolute Untergrenze von 25 Ausgelosten (siehe unten Stichwort “Realistische Stichprobe”).
Die Vorteile von Bürgerbeteiligungsverfahren mit Zufallsauswahl gegenüber solchen mit Beteiligung aus eigenem Engagement heraus liegen auf der Hand: zu Wort kommt nicht, wer fähig oder geübt darin ist, das Wort zu ergreifen, sondern es werden vielfältige Sichtweisen eingetragen.
Die Kombination von zufallsausgewählten Bürgerräten mit gewählten Abgeordneten hat in Irland ermöglicht, ethische Fragen, die jahrzehntelang von der parlamentarischen Demokratie vertagt wurden (Scheidung, Homoehe, Abtreibung), zu entscheiden. Auch in Ostbelgien haben rechtlich verbindlich eingeführte Bürgerräte mit zufällig ausgewählten Bürgern, grundlegende Entscheidungen ermöglicht; – in Deutschland werden gerade Bürgerräte getestet.

b) Eine andere interessante Anwendungsmöglichkeit ist die Auslosung einzelner Ämter, z. B. einer ehrenamtlichen Schiedsperson in der Kommune (Schlichter). In solchen Anwendungsfällen muss anders als bei der Stichprobe sichergestellt werden, dass die Gemeinschaft mit jeder Losentscheidung ähnlich gut leben kann.
Im Feld der Bürgerbeteiligung gibt es solche Einzelauslosungen vor allem, wenn Bürger nur beratend oder gar nur beobachtend an vorhandenen bzw. von der Politik installierten Gremien teilhaben sollen. Kennzeichnend ist, dass die zur Auslosung anstehenden Bürger bestimmte Gemeinsamkeiten haben, die sie genau für dieses Beteiligungsverfahren qualifizieren: sie sind z. B. von einer geplanten Baumaßnahme betroffen, sie sind alleinerziehend oder sie haben sich für das Verfahren beworben und bringen so ein gerade nicht zufälliges Engagement ein.

Siehe hierzu ausführlich:
a) Repräsentative Bürgervoten dank Teilnehmer-Auslosung (pdf)
b) Was ist aleatorische Demokratie? (Mit kurzem Absatz zur Auslosung von Sachentscheidungen)

?Macht:Los! Podcast: Bürgerrat Demokratie (Teil 1) mit Rachael Walch, Günther Beckstein

Aleatorische Demokratie hat in diesem Jahr in Deutschland ein ganz besonderes Experiment erlebt: den “Bürgerrat Demokratie”, eine per Los aus der ganzen Republik zusammengestellte Versammlung, die über Reformen unseres politischen Systems nachgedacht und Empfehlungen für die Politik formuliert haben. Um diesen “Bürgerrat Demokratie” ging es bei “?Macht:Los!” schon häufiger, nun war ich bei den abschließenden Beratungen in Leipzig dabei und stelle die Arbeit und die Ergebnisse vor. Shownotes: Weiterlesen

Podcast “?macht:los!”

Die Podcast-Reihe “?Macht:Los!” diskutiert notwendige Demokratiereformen – mit besonderem Interesse an aleatorischer Demokratie, also der Auslosung statt Wahl von Volksvertretern. Den Podcast gibt es auf allen gängigen Plattformen, Links zu den einzelnen Episoden unten:

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Bürgerräte Berlin Tempelhof-Schöneberg

Ausgeloste Bürgerräte gibt es als großes Modellprojekt nun auch in Berlin. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg realisiert mit einer Förderung durch das Land Berlin in Höhe von 150.000 Euro in seinen Ortsteilen insgesamt sieben “Bürger_innenräte nach dem Vorarlberger Modell”. Der erste per Los aus dem Einwohnermelderegister zusammengesetzte Rat tagte am 9. und 10. August 2019, seine Ergebnisse präsentierte er bereits vier Tage später bei einem “Bürgercafe”. Hier sammeln wir Berichte, Kommentare und Materialien dazu.  Weiterlesen

Bürgerrat Demokratie (Bundesweites Bürgergutachten)

For English Information see: Equality by Lot

Der “Bürgerrat Demokratie” im Jahr 2019 war der Großversuch dieses Verahrens in Deutschland. Bundesweite aleatorische Bürgerbeteiligung hatte es als Planungszellen jedoch schon früher gegeben. Hier dokumentieren wir Entwicklungsschritte und Ergebnisse. 

Im Vereinsmagazin von “Mehr Demokratie” (3/2018) schrieben Anne Dänner (Öffentlichkeitsarbeit) und Roman Huber (Vorstand) zum damaligen Konzept für ein bundesweites Bürgergutachten zur Demokratiereform:

“Es ist höchste Zeit für die Demokratie zu kämpfen. Denn das Vertrauen in diese Staatsform schwindet. Immer mehr Bürger/innen verlieren in den westlichen Demokratien den Glauben an das System. Ganz besonders dramatisch ist dieser Vertrauensverlust bei den Jüngeren.
[…] Für Deutschland ist das neu: Erstmals äußert fast die Hälfte der Befragten ihre Unzufriedenheit mit der Demokratie, nicht nur mit der Politik oder den Politiker/innen.”

Formaler Anknüpfungspunkt war ein Passus im Koalitionsvertrag von Union und SPD, über den Freunde des bundesweiten Volksentscheids schon lange munkeln: Weiterlesen

Schöffen sind kein Beispiel für aleatorische Demokratie

Wenn Beispiele heutiger Praxis aleatorischer Demokratie benannt werden, kommen immer wieder die Gerichtsschöffen ins Spiel. Schöffen sind juristische Laien, die als Vertreter der Bevölkerung in vielen Gerichtsverfahren mitwirken – und dann stets bei der Abstimmung gleichberechtigt mit dem oder den Berufsrichtern. Beim Amtsgericht kommen zwei Schöffen zu einem Berufsrichter, ebenso bei der kleinen Strafkammer der Landgerichte. Die großen Strafkammern und Schwurgerichte der Landgerichte werden aus je drei Berufsrichtern und zwei Schöffen gebildet (Gerichtsverfassungsgesetz GVG § 76 u.a.).
Die Schöffen werden in Deutschland jedoch nicht ausgelost, wie immer wieder angenommen wird, sondern von den Gemeinden benannt (§ 36 GVG). Regelmäßig rufen die Amtsgerichte daher zur Bewerbung für dieses fünfjährige Ehrenamt auf. Zu Beginn ihrer Amtszeit sollen Schöffen zwischen 25 und 69 Jahre alt sein, und es gibt weitere Einschränkungen. Weiterlesen