Aleatorische Demokratie

Initiativen für aleatorische Deliberation

Es gibt derzeit zahlreiche kleine Gruppen und Initiativen, die sich aleatorische Demokratie oder (wenigstens) aleatorische Deliberation wünschen, also zumindest die Beratung der Berufspolitik und Verwaltung durch ausgeloste Bürger. Nachfolgend einige Beispiele. Bereits etablierte aleatorische Verfahren finden sich unter Netzwerk.

Deutschland


Aks us. Eine Petition fordert eine ausgeloste Bürgerversammlung zu Fragen von Asyl und Migration, weil die Politik hier seit Jahren nicht weiterkommt und ein auf Verständigung zielender Dialog in der Gesellschaft fehlt.

Ebenfalls für geloste BürgerInnenversammlungen bzw. Bürgerräte setzen sich “Es geht los”  und “Mehr als Wählen” ein.

Einen  “Deutschen Jugendrat” möchte die Gruppe “Demokratische Stimme der Jugend” einrichten (lassen). Die Mitglieder sollen per Los gezogen werden.

München. Ein Münchner Bürgerparlament oder einen Münchner Bürgerrat plant der “Verein Kommunikative Demokratie e.V.” für 2019. Geplant sind halbjährliche Bürgerversammlungen, bei denen die Themen von den zufällig gelosten Bürgern selbst kommen und von ehrenamtlich agierenden Mitgliedern und Unterstützern des Vereins seriös vorbereitet werden, um dann den Bürgern in der Arbeit eines Wochenendes zur Beratung und Entscheidung vorgelegt zu werden. Projektbeschreibung beim “Denkzentrum Demokratie“.

Neumünster soll ebenfalls einen Bürgerrat bekommen, allerdings sollen die Mitglieder nach derzeitigem Planungsstand zwei Jahre im Amt bleiben. Starten soll das ganze aber mit einer Planungszelle. Artikel, Video.

Einzelpersonen. Zudem gibt es viele einzelne Akteure für aleatorische Demokratie. Viele Ideen verlaufen allerdings mangels finanzieller und personeller Unterstützung im Sande. Auf relevante Einzelinitiativen verweisen wir soweit möglich in diesem Blog.

Planungszellen / Bürgergutachten. Alle uns bekannten Planungszellen, die eine deliberative Form aleatorischer Demokratie sind, haben wir in einem eigenen Beitrag gesammelt (mit Verweis auf Archiv der letzten Jahrzehnte).

Freiburg. Allianz für WERTEorientierte Demokratie (fordert geloste Bürgerversammlung)

– Neumünster (Zeitungsbericht, mehr im Newsletter)

 

Schweiz

Bundesrichter auslosen. Mit der “Justiz-Initiative” sammelt eine Gruppe um den Unternehmer Adrian Gasser bis Herbst 2019 die benötigten 100.000 Unterschriften für eine Verfassungsänderung, ach der die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts per Los bestimmt werden sollen. Im Initiativtext lautet die entsprechende Verfassungsänderung:

“Die Zulassung zum Losverfahren richtet sich ausschließlich nach objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung für das Amt als Richterin oder Richter des Bundesgerichts. […] Über die Zulassung zum Losverfahren entscheidet eine Fachkommission. Die Mitglieder der Fachkommission werden vom Bundesrat für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren gewählt. Sie sind in ihrer Tätigkeit von Behörden und politischen Organisationen unabhängig.”

Initiator Adrian Gasser sagt dazu auf der Kampagnen-Seite:

“Das Bundesgericht ist zum verlängerten Arm der Verwaltung verkommen. Der Einzelne, der Schutz gegen von ihm als ungerecht empfundene Entscheide sucht, fühlt sich unter diesen Bedingungen chancenlos.”

Ausgelostes Parlament. Die Initiative “Generation Nomination” setzt sich für eine Auslosung der Nationalratsmitglieder ein. Derzeit befindet sich die Gruppe nach einem kurzen Medienhype im Prozess des kontinuierlichen Werbens. Eine konkrete Volksinitiative, für die 100.000 Unterschriften in 18 Monaten gesammelt werden müssen, wird derzeit noch nicht angestrebt.

Nicht mehr aktiv

Parteiprogramm. Die “Hanf-Partei” wollte aleatorische Demokratie zum festen Bestandteil des Parteiprogramms machen. Interessierte konnten über die genaue Ausgestaltung diskutieren. Der erste Entwurf stützt sich vor allem auf die Ideen von David Van Reybrouck und Timo Rieg (ohne Beteiligung der Autoren). Inzwischen ist die Hanf-Partei nicht mehr aktiv.
Zuvor hatte die Partei “NEIN!-Idee aleatorische Demokratie in ihrem Programm und wollte auch Parteiposten per Los vergeben. Am 1. April 2017 hat sich die Partei Nein-Idee beim Bundesparteitag in Heubach aufgelöst.

Dieser Beitrag  wird momentan  nicht  aktualisiert. Bitte schauen Sie in unsere lange Netzwerk-Liste. Danke. 

Gegen Wahlen – David Van Reybroucks Buch

Mit seinem Buch “Tegen Verkiezingen” bzw. dessen Übersetzungen hat der Belgische Autor David Van Reybrouck einen Bestseller geschrieben. Erstaunlich, dass er sogar in Deutschland mit “Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist” kurze Zeit auf der Bestsellerliste stand (nach einem Interview mit dem Spiegel) – denn: bis dahin hatte sich keine Redaktion für das Thema Losdemokratie erwärmen können, zu weit weg war die Idee von dem, was sich Politikredakteure vorstellen können.
So wurde Van Reybroucks Buch natürlich auch vor allem in den Feuilletons besprochen – dort aber überwiegend sehr begeistert. Im politischen Alltag ist die Idee noch lange nicht angekommen, aber immerhin kennen nun einige Mitbürger schon mal das Prinzip, darauf lässt sich aufbauen. Weiterlesen

Losen statt Wählen

reybrouck--against-elections-verlagscoverVor drei Jahren schon hat der belgische Autor (und Historiker, Ärchäologe und Ethnologe) David Van Reybrouck ein tolles Buch über die demokratische Methode der Auslosung geschrieben: “Tegen verkiezingen”. Nun ist es fast zeitgleich auf Englisch und Deutsch erschienen: Against Elections – Gegen Wahlen. Das Schöne: Dank seines Promistatus konnte Van Reybrouck so ein wichtiges Feld der Demokratiereform in die Massenmedien bringen, denn Spiegel, Süddeutsche, Welt etc. standen alle sofort parat und haben rezensiert bzw. Interviews geführt (Linksammlung).

Wir verweisen darauf, dass es zur “Losdemokratie” schon allerhand Schriften gibt – eine kleine Auswahl haben wir auf unserer Literaturseite gesammelt. Weiterlesen

Aleatorische Demokratie: Die Ausgelosten sind wir

Die Idee, ausgeloste Bürger sollten für die Gesamtheit entscheiden können, sorgt bei fast allen für Irritationen, die zum ersten Mal von der Idee hören. Obwohl sie sich täglich über ihre “gewählten Vertreter” im Parlament aufregen können, haben sie doch die Befürchtung, “normale Bürger” würden noch schlechter arbeiten (siehe u.a. “Das Bürgerparlament“).

Eine sehr überzeugende, schön formulierte Argumentation hat nun gerade Tom Atlee notiert in seinem Blog-Post “Pros, cons and the liberation potential of random selection“:

>>When we elect representatives, they are (theoretically) our agents: they are there to do what we want them to do. In this, so the theory goes, they are – and need to be – “answerable” to us, their constituency, and subject to rewards and penalties from us when (in our judgment) they do well or poorly.
With sortition, on the other hand, there is no “they”. The people selected do not have a constituency like an elected official does. “They” are actually “us”. They are doing what we would do if we were selected. And more of us WILL BE selected in the next round of selections. “They” are us, the People, doing the work of co-creating our shared destiny. They may make mistakes or do things some of us individually don’t like, but that is more like when we individually make mistakes or do things we don’t like in our own lives.<< (12. August 2015)

Die für kurze Zeit zur Beratung ausgelosten Bürger sind zwar Stellvertreter für alle (und nicht nur für “ihre Wähler”), aber sie müssen dafür kein Mandat verhandeln, sich nicht rechtfertigen, schon gar nicht mit (fiktiven) Ideen bewerben – sie sind  einfach nur sie – und damit in der Summe “wir”, weil eben rein statistisch alles berücksichtigt wird, und zumindest über mehrere Auslosungen hinweg tatsächlich auch die kleinste Minderheit einmal dabei ist.

Demokratische Innovationen bringen wenig?

Für die Otto-Brenner-Stiftung hat Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Wissenschaftszentrum Berlin, eine Studie über demokratische Innovationen vorgelegt*. Sein Fazit: „An erster Stelle muss eine Reformierung und Vitalisierung von Parteien, Parlament und Regierung stehen. Die diskutierten demokratischen Neuerungen können diese Versuche ergänzen, aber nicht ersetzen.“

Bei seiner Untersuchung kommt Merkel für deliberative Verfahren wie die Citizens Jury/ Planungszelle laut Pressemitteilung zu folgendem Schluss:

Deliberative Verfahren, die in einem moderierten Prozess der Beratung auf den „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments setzen, sind vor allem für die Mittelschichten partizipationsfördernd. Ein Konzept, das solche Diskurse ohne Ausschluss der bildungsfernen Schichten etablieren könnte, wurde bisher in den entwickelten kapitalistischen Demokratien der OECD-Welt nicht vorgelegt.
Demokratische Deliberation kann aber dazu beitragen, gesellschaftliche Diskurse zu repräsentieren, die sonst in der interessen- und machtüberladenen Sphäre der repräsentativen Demokratie nur wenig Gehör finden. Gute Erfahrungen hat Brasilien mit seinen Public-Policy Konferenzen zu Themen wie Gesundheitsversorgung, Sozialpolitik und Bildung gemacht. Der Beweis, dass diese auch verteilungspolitisch relevanten Maßnahmen in den reifen Demokratien der OECD-Welt ebenfalls akzeptiert werden, ist kaum zu erwarten.

Eine Rezension der Studie gibt es hier: “Nur wissenschaftlicher Schein?– Merkel verkorkst Studie über demokratische Innovationen”

*) OBS-Arbeitsheft 80: Nur schöner Schein? Demokratische Innovationen in Theorie und Praxis;
Vollständige Pressemitteilung